RÖMISCHE INSCHRIFTENSCHRIFTEN
rizontale Lage des Querbalkens, und in dieser Gestalt hat sich die Zeichnung des
Buchstabens T im lateinischen Alphabet stabilisiert. Das Verhältnis der Länge des
Querbalkens zur Schafthöhe ist allerdings nicht immer das gleiche. In älterer Zeit ist
der erstere meist kurz, um erst in den klassischen Inschriften zur vollen Schaftlänge
zu wachsen, wie es die Tendenz zur Quadratur der Schriftmaße verlangt.
Der Buchstabe V wird sowohl für den Konsonanten v als auch für den Vokal и
verwendet. Er ist von Anfang an stabil und neigt sich nur vereinzelt nach links, so daß
der rechte, gewöhnlich schräge Schenkel zum mehr oder minder senkrechten Schaft
wird. Der Cippus vom Forum Romanum führt uns jedoch eine andere, ältere und
seltenere Form vor Augen, die die Zeichnung des späteren Buchstabens Y hat, ähnlich
wie sein altgriechischer Vorgänger..Sonst ist jedoch auch in der archaischen Latein¬
schrift die heutige Form V geläufig, wenn sie auch meist viel schmäler gehalten wird,
als dies in den letzten Jahrhunderten der Republik der Fall war.
Der Cippus vom Forum Romanum gibt gleicherweise über die älteste Form des
letzten Buchstabens der archaischen Lateinschrift Aufschluß : das Zeichen X. Es kommt
durch die Überkreuzung eines horizontalen Strichs mit einem vertikalen zustande,
was zum Vergleich mit der glagolitischen Schrift der Slawen anregt, die ihr Azbuka
genanntes Alphabet anderthalb Jahrtausende später mit demselben Zeichen einleiten,
das am Ende des lateinischen Alphabets steht. Durch eine Drehung dieses archaischen
Kreuzes um 90o entstand eine weitere, dem griechischen Buchstaben chi ähnliche
Form, die für den Buchstaben in der Lateinschrift ohne weitere Veränderungen der
Schriftkonstruktion beibehalten wurde.
Die erst am Ausgang der republikanischen Epoche in bereits voll entwickelter und
stabilisierter Monumentalform aus dem griechischen Alphabet übernommenen Buch¬
staben Y und Z blieben in der gesamten weiteren Entwicklung der Lateinschrift gleich¬
falls konstant.
So also sahen die verschiedenen und mannigfaltigen Varianten der Schriftkonstruk¬
tion der einzelnen Zeichen des altrömischen Inschriftenalphabets aus, wenngleich mit
dieser Aufzählung der Modifikationen die Morphologie der antiken lateinischen In¬
schriftenschriften natürlich beiweitem nicht erschöpft ist. Wir befinden uns im Gegen¬
teil erst am Anfang unseres Studiums, denn uns interessiert gerade und vor allem der
Übergang von der bloßen Konstruktion zu einem Schriftschaffen höheren Typus.
Ebenso interessiert uns, zu welchen Formen und zu welcher graphischen Ordnung die
weitere zeichnerische Gestaltung sowohl einzelner Buchstaben als auch des gesamten
Alphabets als einheitliches Ganzes führte. Bei einem so ausgerichteten Studium, in
dem es uns sehr oft um außerordentlich feine Nüancen der Schriftzeichnung zu tun
sein wird, die bei den jüngeren Entwicklungsphasen der Lateinschrift mit Hilfe der
üblichen und unerläßlichen Maßstäbe gewertet werden muß, können wir uns na¬
türlich nicht in allem auf die ganz anderen Zwecken dienende epigraphische Wissen¬
schaft verlassen. Wir müssen daher oft zur Selbsthilfe greifen und eine womöglich
erschöpfende Analyse und Klassifizierung der verschiedenen Formen des lateinischen
Alphabets in diesem entscheidenden Zeitabschnitt seiner formalen Entwicklung ver¬
suchen. Wenngleich unsere Möglichkeiten, über ein ausreichendes Vergleichsmaterial
zu verfügen, vor allem was Originalobjekte betrifft, mehr als begrenzt sind, können
wir uns bei der Untersuchung der uns zugänglichen Beispiele doch nicht des Gefühls
erwehren, daß die übliche epigraphische Klassifizierung, die für die Zwecke dieser
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ARCHAISCHE LATEINSCHRIFT
26. Fibula aurea Praenestina, um 600 v. Chr.
Wissenschaft durchaus mit einigen wenigen Hauptkategorien der Schrift auskommt,
hier völlig unzureichend ist. Zumindest verlangen diese Kategorien von unserem Ge¬
sichtspunkt aus und für unsere Zwecke die Aufstellung weiterer Untergruppen. Mit
Schwierigkeiten dieser Art werden wir uns auch in der weiteren Entwicklung der
Lateinschrift bis in die moderne Zeit auseinandersetzen müssen, was bis zu einem
gewissen Grade auch beim Studium der Schrift der ältesten römischen Inschriften,
von denen wir hier einige bereits in der vorhergehenden morphologischen Übersicht
erwähnt haben, der Fall sein wird.
Das älteste erhaltene Denkmal der Lateinschrift überhaupt ist die sog. Fibula Prae¬
nestina, eine hier bereits genannte goldene Spange aus der Zeit um 600 v. Chr., also
noch aus der Periode des römischen Königtums, die im Jahre 1871 in Praeneste ge¬
funden wurde (Abb. 26). Die Schrift dieses und einiger weniger weiterer Dokumente
der ältesten lateinischen Sprache und Schrift stellt eine so nah verwandte Übertra-
gung des westgriechischen Alphabets dar, daß sie Zweifel über die Notwenigkeit einer
etruskischen Vermittlung aufkommen läßt. Vom hohen Alter der Inschrift auf dieser
Spange - sie enthält die durch zwei oder drei Punkte übereinander getrennten Worte :
manios med fhe fhaked numasioi (Manius me fecit Numerio) — zeugt nicht nur das
archaische Latein, sondern auch die orientalische Schreibrichtung von rechts nach
links. In gleicher Weise ist die viel jüngere sogenannte Inschrift des Dueños auf der
Außenseite einer Drillingsvase geschrieben (Vasculum Dresselianum), die im Jahre
1880 in der Nähe des Quirinais in Rom gefunden wurde (Abb. 27). Obwohl sie erst
in den Beginn des 4. Jahrhunderts v. Chr. fällt, ist auch die Schrift dieser bereits
längeren Inschrift, in der ein gewisser Dueños seinen Bannfluch gegen einen Mann
namens Manos ausspricht, typisch für die erste Entwicklungsphase der Lateinschrift,
vor allem durch die bezeichnend schmale, orientalisch unausgeglichene Kursivzeich¬
nung. Als Bustrophedon ist sodann die älteste bekannte lateinische Inschrift in Stein
gehalten. Sie wurde in die vier Seiten eines quaderförmigen Pfeilers eingemeißelt, der
vielleicht schon im 5. oder gar im 6. Jahrhundert v. Chr. entstand und in der Fach¬
literatur entweder als Lapis Romuli oder als Cippus bzw. Lapis niger vom Forum
Romanum bekannt ist (Tafel I). Die Buchstaben dieser Inschrift laufen in vertikalen
Zeilen abwechselnd von rechts nach links und umgekehrt. Sie sind formal eng ver¬
wandt mit den Zeichen des auf der Vase von Formello zweimal vorkommenden Alpha¬
bets, ebenso wie mit den übrigen prototyrrhenischen Alphabeten. Wie für die Schrift
auf der Spange von Praeneste und die Inschrift des Dueños ist auch für diese Inschrift
vom Forum Romanum die archaische Zeichnung der Buchstaben E, F, H, M, Qund
X typisch, desgleichen die Undiszipliniertheit der verschieden hohen Zeichen. Viel¬
leicht das einzige Merkmal, durch das sich diese Inschrift von den zuvor erwähnten
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