RÖMISCHE INSCHRIFTENSCHRIFTEN
kommt außerdem noch eine Form mit kurzen parallelen Mittelstrichen vor, die in
der Nähe der Schaftmitte angesetzt sind. Ein solches Ansetzen des oberen und unteren
Schenkels an verschiedenen Punkten des Schaftes tritt manchmal auch dann auf,
wenn die Schenkel auseinanderstreben. Erst im 3. Jahrhundert n. Chr. verwenden
einige Inschriften unsere heutige Form mit dem ungefähr in der Mitte des Haupt¬
balkens angesetzten oberen und unteren Schenkel, die bis zur Kopf- bzw. Fußlinie
der Inschriftzeile reicht.
Der Buchstabe L behielt seine archaische Form mit den beiden in mehr oder weni¬
ger scharfem Winkel verbundenen Strichen bis in die Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr.
bei. Erst dann stabilisierte sich der Querbalken in waagrechter Lage. Seltener neigt
er sich in manchen Inschriften nach unten. Im übrigen unterscheiden sich die ver¬
schiedenen Formen des Buchstabens voneinander nur durch die Länge der Horizon¬
tale, die in der Blütezeit ungefähr die Hälfte der Schafthöhe beträgt.
Die Inschrift auf dem Cippus vom Forum Romanum läßt zwei Hauptformen des
Buchstabens M erkennen. Deren erste kann als unveränderte Replik des archaischen
griechischen Zeichens mi mit senkrechtem Hauptbalken gelten, dessen Scheitel die
verhältnismäßig kleine Zeichnung in Gestalt eines heutigen w trägt. Die zweite Form
mit der Zickzackzeichnung von fünf gleich langen Schäften kommt auch auf der Fibel
von Praeneste und in der Inschrift des Dueños vor. In dieser Form ist die Zeichnung
des M typisch für die archaische Lateinschrift. Sie blieb zur Zeit der Republik in
Gebrauch und wurde noch in der Kaiserzeit vereinzelt als Abkürzung des Namens
Manius verwendet. Inzwischen überwog jedoch bereits eine mit vier gleich langen
Zügen breit ausladende Form, die im wesentlichen in die moderne Lateinschrift
überging. In republikanischer Zeit tritt manchmal auf Münzen und kleinen Gegen¬
ständen eine Form in Erscheinung, deren innere, V-förmige Züge weit kürzer waren
als die äußeren Schäfte. Durch Gründe der Raumersparnis war eine weitere Form
beeinflußt, bei der die äußeren schrägen Züge zu senkrechten Schäften wurden,
während die innere Zeichnung im Verhältnis zu ihnen klein blieb. Die heutige Form
mit vertikalen Schäften und mit dem Scheitel des Winkels der inneren Züge auf der
Fußlinie tritt erst im 1. Jahrhundert n. Chr. in der Provinz Germanien auf. Kursive
Formen oben verlängerter geradzahliger Züge oder aus vier gleichlaufenden isolierten
Vertikalen sind in den Inschriften verhältnismäßig späten Datums.
In der ältesten Form des Buchstabens N waren alle Striche schräg, aber manchmal
kommt in derselben Inschrift eine Form entweder mit senkrechtem rechtem Schaft
oder mit beiden Schäften in senkrechter Lage vor. Obwohl die erstgenannte Form
die ganze Zeit der Republik über in Gebrauch bleibt, gewinnt jene mit den senkrech¬
ten Schäften in der Konstruktion der modernen Lateinschrift schnell Übergewicht.
In archaischer Zeit wies der Buchstabe О eine ganze Reihe von Varianten auf.
Interessant ist zum Beispiel eine aus zwei eckigen Klammern zusammengesetzte Form,
die an zwei einander zugewandte, aber miteinander nicht verbundene archaische G
erinnert. In einer weiteren Variante sind sie wenigstens oben verbunden. Ähnlich
werden zwei seichte Bögen entweder überhaupt nicht oder nur oben verbunden, so
daß sie zur Hufeisenform werden. Um die Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. ver¬
schwinden alle diese offenen Formen. Das kreisförmige О ist in den archaischen In¬
schriften gewöhnlich viel kleiner als die benachbarten Buchstaben, aber auch in ältester
Zeit ist ein ringförmiges О in voller Zeilenhöhe keine Seltenheit.
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ARCHAISCHE LATEINSCHRIFT
Die älteste Form des Buchstabens P, deren letzte Spuren wir noch im Jahre 114
v. Chr. feststellen können, war eine getreue Replik des eckigen Zeichens pi der ar¬
chaischen griechischen Schrift. Der rechte Winkel der beiden am oberen Teil des
Schaftes hängenden Striche entwickelte sich inzwischen zu einem kurzen Bogen, dessen
freies Ende sich später nach unten in der Richtung zum Hauptbalken verlängerte,
ohne sich mit diesem zu vereinigen. Ein P mit geschlossener Rundung war in republi¬
kanischer Zeit äußerst selten und trat erst um das Jahr 100 n. Chr. in Germanien
und weitere hundert Jahre danach auch in Rom und den übrigen Provinzen öfter auf.
Doch die besseren Inschriften behalten auch in der Kaiserzeit in der Regel die offene
Form bei, die immer für schöner gehalten wurde.
Die archaische Form des griechischen Buchstabens kappa wurde in die archaische
Lateinschrift als Zeichen für q übernommen. Es war dies ein kleiner Ring, der auf
einer kurzen Vertikale saß. Eine andere, wahrscheinlich bereits kursive Form zeigt
eine Wellenlinie ähnlich einem verkehrten S, dessen obere größere Schleife der Ring
des eigentlichen Zeichens ersetzte, während sich die kleinere untere Schleife zum dif¬
ferenzierenden Anhängsel verwandelt hatte. Die griechische Urform entwickelte sich
weiter, indem der Kreis seinen Durchmesser bis zur Höhe der übrigen Buchstaben
erweiterte, während das auf ein Minimum reduzierte Anhängsel schließlich horizontal
unter dem Buchstaben verlief. Später verlängerte es sich wieder nach unten, bis es in
der frühen Kaiserzeit zu einem verhältnismäßig langen, gekrümmten und nach rechts
unter den benachbarten Buchstaben weisenden Schweif wurde.
Auch der Buchstabe R unterscheidet sich in der archaischen Periode keineswegs
von der eckigen archaischen Form des griechischen Buchstabens rho, dessen Form
später im P der Lateinschrift zur Geltung kam, Im Laufe der weiteren Entwicklung
bog sich die Schleife der Rundung im stumpfen Winkel zurück, was bereits einen
Ansatz zum charakteristischen Schrägfuß des lateinischen Schriftzeichens darstellt.
In weiteren Varianten ist der Bauch entweder dreieckig oder gerundet, geschlossen
oder offen. Der Schrägfuß bleibt jedoch noch einstweilen das für die archaische Pe¬
riode typische kurze Anhängsel. Obwohl ausnahmsweise auch ein längerer Fußansatz
vorkommt - oft noch mit dem eckigen Bauch verbunden -, wird dieser Typ erst in der
entwickelten Monumentalschrift zur Regel.
Die typisch archaische Form des Buchstabens S mit ihrer nach links oder auch nach
rechts gewandten eckigen Zeichnung ist auf die Zeit der Republik bis zur Mitte des
2. Jahrhunderts v. Chr. beschränkt. Inzwischen entsteht jedoch durch Verbindung
der drei Striche der archaischen Form zu einer einzigen Wellenlinie schon die Rund¬
form. In älteren Inschriften sind die Schwingungen dieser Wellenlinie in der Regel
ziemlich seicht, so daß der Buchstabe ein charakteristisch schmales Aussehen erhält.
Später wölben sich die Bogenlinien stärker, aber auch in den besten Perioden behält
der Buchstabe seine bezeichnende Schmalheit bei, ebenso wie die Tendenz zu einer
leichten Neigung nach rechts. Das gegenseitige Verhältnis beider Schleifen der Schrift¬
zeichnung verändert sich von Fall zu Fall, bevor es sich im klassischen Gleichgewicht
stabilisiert.
Der Buchstabe T wurde ohne Veränderungen aus dem griechischen Alphabet über¬
nommen und die weitere Entwicklung hat seine Zeichnung kaum beeinflußt. Nur der
Querbalken ist oft nach links oder rechts unten geneigt. Aber auch in den ältesten
Inschriften, beispielsweise auf dem Cippus vom Forum Romanum, überwiegt die ho-
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