RÖMISCHE INSCHRIFTENSCHRIFTEN
Zahlwerte, einer unerläßlichen Ergänzung jedes Alphabets (Abb. 25). Die Entstehung
eines graphischen Systems zum Ausdruck der niedrigen Zahlwerte I - X wird entweder
mit seiner Ableitung von den alten Kerbzeichen (Menninger) oder mit der pikto-
graphischen Darstellung des Zählens mit den Fingern (Mommsen) erklärt, wobei der
Buchstabe I einen Finger bezeichnet, zwei I zwei Finger oder die Zahl 2 usw. Der
Buchstabe V bedeutet sodann nach dieser Hypothese die ganze Hand, also fünf Finger,
die Zahl 10 entsteht durch die Verbindung zweier Hände - das Zeichen X. Zur
Niederschrift höherer Zahlwerte bediente man sich einiger Zeichen des westgrie¬
chischen Alphabets, die im lateinischen nicht gebraucht wurden. Für die Zahl 50
stand anfangs das westgriechische Zeichen kh, von dem durch schrittweise Verein¬
fachung schließlich die Form des Buchstabens L übrigblieb. Die Zahl 100 drückte das
westgriechische Zeichen th in Gestalt eines Kreises mit einem Punkt oder einem kurzen
Querstrich in der Mitte aus. Daraus entwickelte sich durch vertikale Teilung das
Zeichen C, das in der Funktion dieses Zahlwerts auch darum weiterhin Geltung be¬
hielt, weil es der erste Buchstabe der lateinischen Bezeichnung centum war. Die Zahl
500 wurde mit dem Buchstaben D umschrieben, dessen Form der Hälfte des vertikal
geteilten westgriechischen Zeichens ph entsprach, das anfangs ganz den Zahlwert 1000
bezeichnet hatte. Der vertikal geteilte Kreis dieses Zeichens wurde in der weiteren
Entwicklung zum Ausgangspunkt einiger aufeinanderfolgender Modifikationen, die
schließlich im Mittelalter zum Buchstaben M führten, mit dem die lateinische Be¬
zeichnung mille beginnt. Bei der Zahl 10 000 halfen sich die alten Römer mit dem
verdoppelten Kreis des Zeichens ph und mit drei konzentrischen Kreisen drückten
sie den Wert 100 000 aus. Allerdings traten beide letztgenannten Zeichen im Laufe
der Entwicklung in einer ganzen Reihe von Modifikationen auf. In älterer Zeit gab
es keine über 100 000 hinausreichenden römischen Zahlen, weshalb man, wenn es sich
um höhere Werte handelte, das Zeichen für 100 000 nach Bedarf mehrmals neben¬
einander wiederholte. So zeigt die Columna Rostrata, ein Marmorfragment mit einer
Inschrift, die in archaisierender Art vielleicht erst unter Claudius eingemeißelt wurde,
noch heute 21 dieser Zeichen nebeneinander; ursprünglich sind es wahrscheinlich
etwa 30 gewesen. In der Endphase der Republik ersetzte man diese unbequeme Art,
höhere Zahlwerte festzuhalten, durch Querstriche über oder durch Vertikalen an den
Seiten niedrigerer Zahlen. Ein Querstrich über der Zahl 10 beispielsweise bedeutete
10 000, und wenn vertikale Striche an den Seiten desselben Zeichens hinzugefügt
waren, bedeutete das 1,000 000.
Die Buchstaben Y und Z, mit denen die Entwicklung des lateinischen Alphabets
endgültig endete, waren für den graphischen Ausdruck der lateinischen Sprache nicht
mehr unbedingt notwendig. Denn diesem Zweck hatte schon lange zuvor die ar¬
chaische Lateinschrift mit ihren 21 Zeichen entsprochen. Wenn sie auch in dieser Hin¬
sicht, ihrem äußeren, graphischen Aspekt nach, vollendet gewesen sein mag, hatte
es die archaische Lateinschrift zur wahren Vollkommenheit noch sehr weit. Sie war
nur die erste Stufe auf dem steilen Anstieg zur klassischen Schrift des alten Roms, zu
den zahllosen Formen des Früh- und Spätmittelalters, zu den Modifikationen der
Renaissance, des Barocks, des Klassizismus und zu unseren modernen formalen Modi¬
fikationen. Von unserem Gesichtspunkt aus betrachtet hat das Alphabet der ältesten
Denkmäler des lateinischen Schrifttums, ähnlich wie dies beim griechischen der Fall
gewesen war, noch den unbestreitbar orientalischen Kursivcharakter der formal un¬
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ARCHAISCHE LATEINSCHRIFT
disziplinierten phönikischen Inschriften. Von den graphischen Werten der Schrift und
des Schriftschaffens in unserem Sinne kann daher beim Studium der ersten lateini¬
schen Inschriften noch überhaupt nicht die Rede sein. Es dauerte sehr lange, bevor
bei der Gestaltung des Schriftzeichens auch ästhetische Gesichtspunkte zur Geltung
kamen, bevor wir von einer fortgeschrittenen Stabilisierung der Schriftkonstruktion
der einzelnen Buchstaben in der einheitlichen Ordnung des ganzen Alphabets als der
Grundlage einer weiteren formalen Entwicklung sprechen können. Bis dahin herrschte
in der konstruktiven Konzeption des Schriftbildes beträchtliche Freiheit, und in älterer
Zeit kamen einige Zeichen gleichzeitig in mehreren Varianten vor. Einige davon sind
zwar bezeichnend für gewisse beiläufig festgelegte Entwicklungsperioden der Latein¬
schrift, aber die Mehrzahl kann man in zeitlich so sehr voneinander entfernten epi¬
graphischen Dokumenten feststellen, daß wir aus ihrer Gegenwart in der Inschrift
entweder überhaupt nicht oder nur sehr bedingt auf deren Alter schließen können.
Ihr diesbezüglicher geringer Nutzwert rückt diese Modifikationen jedoch keineswegs
aus dem Blickfeld unseres Spezialinteresses, denn sie sind im ganzen wie in den Ein¬
zelheiten sicherlich graphisch interessant und für die Kenntnis der Entwicklung der
lateinischen Schriftzeichnung zweifellos von Bedeutung. Darum können wir uns eine
etwas eingehendere morphologische Übersicht der graphisch interessantesten Modi¬
fikationen einzelner Buchstaben des lateinischen Alphabets von den ältesten Zeiten
bis zu seiner formalen Stabilisierung in der Kaiserzeit nicht ersparen, einen Überblick,
dessen verhältnismäßige Ausführlichkeit man mir schon darum verzeihen möge, weil
wir in Wirklichkeit jetzt erst an den eigentlichen Gegenstand unseres Studiums heran¬
treten : die formale Entwicklung der Lateinschrift.
Schon der erste Buchstabe des lateinischen Alphabets ist in archaischer Zeit außer¬
ordentlich reich an verschiedenen Varianten der Schriftzeichnung, in der immer nur
der Winkel der gespreizten Schäfte mit der Spitze nach oben konstant bleibt. Da¬
gegen hat der diese beiden Schäfte verbindende Querbalken verschiedene Lagen und
fällt manchmal sogar überhaupt fort. In der ältesten Inschrift auf der sog. Manios-
Spange aus Praeneste um das Ende des 7. oder den Beginn des 6. Jahrhunderts v. Chr.
ist dieser Querbalken seltsamerweise schon waagrecht und nimmt damit eine Lage
ein, die auch im Verlauf der weiteren Entwicklung überwog, allerdings in verschie¬
dener Höhe des Buchstabens. Der Cippus vom Forum Romanum aus dem 6.-5.
Jahrhundert v. Chr. mit einer Inschrift im Bustrophedon führt uns mehrere Varianten
des Buchstabens A vor Augen: vor allem eine Form, die anstelle der geraden Schäfte
Kreisabschnitte zeigt, die ein waagrechter Querbalken verbindet. Ein anderes A hat
einen gebogenen linken und geraden rechten Schaft, während der Querstrich das
untere Drittel des Bogens schräg mit der Mitte des rechten Schaftes verbindet. Eine
weitere Form des A ist ein bustrophedonartig spiegelverkehrtes Abbild der vorge¬
nannten Form. Die letzte Variante des Buchstabens A dieser Inschrift ist ein von zwei
geraden Schäften eingeschlossener Winkel; einer dieser Schäfte verläuft senkrecht,
während in der Mitte ein schräger Verbindungsstrich sitzt. Durch das Beispiel der
erwähnten Inschrift wird besonders anschaulich, wie unstabil die Schriftzeichnung
in der ältesten Periode war. Eine andere sehr häufige Form ist eine Zeichnung, in der
ein schräger Querstrich den Fuß entweder des linken oder des rechten Schaftes unge¬
fähr mit der Mitte des anderen Schaftes verbindet. Manchmal wird der Querstrich
in diesem Fall auch ein klein wenig oberhalb des Fußes angesetzt. Eine weitere Form
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