RÖMISCHE INSCHRIFTENSCHRIFTEN
aufnehmendes Volk, als das sich die Römer in ihrer Geschichte erwiesen, sich eine so
lange Zeit, zwei ganze Jahrhunderte vor der etruskischen Dynastie, nicht vom Wert
der Schriftkenntnis überzeugt hätte, zumal es bei seinem Kontakt mit den Griechen
deren Schrift kennengelernt haben mußte. Wie dem auch sei, das westgriechische
Alphabet gelangte sicher sehr früh zu den Römern, in einer Zeit, da die griechische
Schrift noch nicht ganz stabil und dem primitiven Stadium der von rechts nach links
geschriebenen archaischen Form der griechisch modifizierten phönikischen Vorlage
eben entwachsen war. Aus diesem Grund zeigt die ARCHAISCHE LATEIN¬
SCHRIFT anfangs eine solche Verwandtschaft mit der archaischen griechischen
Schrift, daß auch sehr vorsichtige Schätzungen die Anfänge der Entwicklung der
Lateinschrift ins 7. Jahrhundert v. Chr. datieren, wenngleich es Autoren gibt, die
nicht zögern, ihre Entstehung dem 8. oder sogar dem 9. Jahrhundert v. Chr. zu¬
zuordnen (Thompson). Das sind allerdings bloße Vermutungen, die sich nur auf ge¬
wisse Erwähnungen in den Quellen und einige Analogien stützen, denn die ältesten
erhaltenen Denkmäler der Lateinschrift gehören einer um vieles jüngeren Zeit an.
Doch auch aus diesen Dokumenten ergibt sich eine Abhängigkeit vom westgriechi¬
schen Vorbild, obwohl hier natürlich schon Unterschiede in der Bedeutung mancher
Zeichen auftreten, wie es das Bedürfnis nach dem graphischen Ausdruck der anders¬
gearteten phonetischen Struktur der lateinischen Sprache verlangte. Die von den alten
Römern gesprochene Sprache war dieselbe, deren sich auch die übrigen Bewohner
Latiums bedienten, und bevor die Lateinschrift zu jener hohen Stufe sprachlicher
Vollendung gedieh, die wir bei den lateinischen Klassikern bewundern, mußte sie eine
von vielen verschiedenen Einflüssen geprägte Entwicklung durchlaufen. Das geschah
einerseits unter der Einwirkung der Nachbarsprachen, von denen die etruskische im
Latein merkwürdigerweise nur geringfügige Spuren hinterließ, anderseits unter grie¬
chischem Einfluß, der sich direkt und auch indirekt durch Nachahmung griechischer
literarischer Vorbilder geltend machte (Groh). Das alte Latein war jedoch phonetisch
einfacher als Griechisch, weshalb zu seiner phonetischen Übertragung nur 21 aus dem
griechischen Alphabet übernommene oder in verschiedenen Varianten der Schrift¬
zeichnung von ihm abgeleitete Buchstaben genügten (Abb. 24). Mit dieser Anzahl
Buchstaben kam die Lateinschrift, wie wir von Cicero wissen, bis in seine Zeit aus.
Auch Quintilian erwähnt den Buchstaben X als letzten des Alphabets - ultima nostra-
rum. Als unbrauchbar fortgelassen wurden die Zeichen theta, phi und ksi sowie der
phönikische Buchstabe samekh, der noch im Alphabet der Vase von Formello vor¬
kommt. Einige Zeichen des griechischen Alphabets erhielten in der Lateinschrift einen
neuen Wert. So z. B. das griechische digamma, das dem phönikischen vau entsprach und
anfangs zugleich auch den Konsonanten v bezeichnete, um sich dann mit der Be¬
deutung/zu stabilisieren. Das Zeichen Z des Buchstabens dzeta fiel in der Lateinschrift
früh als überflüssig fort, denn sein Lautwert wurde im Bedarfsfall durch den Buch¬
staben S am Anfang und SS in der Wortmitte ausgedrückt. Denselben Wert wie im
Griechischen hatte ursprünglich das Zeichen gamma, aber zugleich wurde es im Sinne
des griechischen Buchstabens kappa vor Konsonanten und harten Vokalen und des
deutschen с vor weichen Vokalen verwendet. Doch ein einziges Zeichen genügte nicht,
um so verschiedene Laute wiederzugeben. Um Konfusionen vorzubeugen, wurde um
300 v. Chr. für den Laut g das neue Zeichen G eingeführt, das durch eine geringfügige
Abänderung des Buchstabens С entstand und im Alphabet anstelle des fortgelassenen
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ARCHAISCHE LATEINSCHRIFT
Z eingereiht wurde, d. h. zwischen F und H. Der Unterschied zwischen С und G
tritt in den erhaltenen Inschriften erstmalig auf einer Münze aus Luceria aus der
Zeit nach 314, später um 250 auf Münzen aus Aesernium und in drei Worten des
Elogiums auf dem Grabmal des Scipio Barbatus aus den Jahren vor 234 v. Chr. in
Erscheinung. Die Lautbedeutung g des Buchstabens С blieb jedoch auch weiterhin
in den Abkürzungen von Namen - С für Gaius und CN für Gnaeus - erhalten. Gleich¬
zeitig verschwand der Unterschied zwischen С und K, und mit der wachsenden Vor¬
herrschaft des С verlor das К seine Existenzberechtigung. Dessenungeachtet blieb es
jedoch im Alphabet erhalten, obwohl sich sein Gebrauch seit dem 2. Jahrhundert
v. Chr. auf einige wenige archaische Formen beschränkte, wie beispielsweise Kalendae,
kalare u. ä. Eine doppelte phonetische Bedeutung erhielt das Zeichen I, das auch für
den Laut j verwendet wurde, und der Buchstabe T, der in einigen Fällen wie с klang.
In der etruskischen Fassung wurde das griechische ypsilon als Zeichen für das la¬
teinische v übernommen, das jedoch nach Bedarf auch den Laut и ausdrückte. Der
letzte Buchstabe des lateinischen Alphabets war sodann das X, das griechische Zeichen
für chi. An der Wende des 2. und 1. Jahrhunderts v. Chr. rief jedoch die häufige Not¬
wendigkeit der Transskription einer Reihe griechischer Worte, die zu dieser Zeit im
literarischen Latein Wurzel faßten, wie z. B. Zephyrus u. ä., danach, die Lateinschrift
noch durch den Buchstaben Y in der ursprünglichen griechischen Gestalt zu ergänzen
und auch den Buchstaben Z wiedereinzuführen. Der Laut des griechischen Y wurde
bis dahin entweder durch den Buchstaben V oder I ausgedrückt und nur in einem
einzigen Fall, dem Wort Dionysi in einer Inschrift aus Puteoli, hat man das Zeichen
Y in älterer Zeit als um 100 v. Chr. festgestellt, sofern wir allerdings nicht die In¬
schriften aus ältester Zeit in Betracht ziehen, in denen das Zeichen Y jedoch den Laut
v ausdrückte. In seiner eigenen Bedeutung kommt das Zeichen Y erst nach 55 v. Chr.
öfter vor. Der Buchstabe Z, der zwar vereinzelt schon früher vor kam, beispielsweise
auf einer Münze aus Cosa aus der Zeit vor 273 v. Chr., wurde erst zur Zeit Sullas
in der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts v. Chr. wieder in das lateinische Alphabet
eingereiht. Da der ursprüngliche Platz des Z inzwischen vom G besetzt worden war,
wurden beide Buchstaben am Ende des Alphabets eingereiht, und seither ist dieses
nicht mehr verändert worden. Kaiser Claudius versuchte zwar in der ersten Hälfte
des i. Jahrhunderts, noch drei weitere Zeichen einzuführen, die litterae Claudianae, die
jedoch nicht einmal ihren Urheber überlebten, obwohl seine Absicht im Grunde nicht
schlecht gewesen war. Er hatte nämlich den mit dem Buchstaben V bezeichneten
Vokal и von dem ebenso bezeichneten Konsonanten v unterscheiden wollen, indem
er für den letzteren ein neues Zeichen in Gestalt eines verkehrten F (digamma inversum)
vorschlug. Mit dem zweiten Zeichen in Gestalt des Buchstabens I mit einem kurzen
Querstrich, der rechts in der Mitte des Schafts herausragte, wollte er einen Laut
zwischen dem и und i etwa im Sinne eines kurzen ü festhalten. Mit dem dritten Zeichen
in Gestalt eines spiegelverkehrten С (antisigma) schließlich sollte der Laut ps oder bs
ausgedrückt werden. Die neuen Claudischen Zeichen erwiesen sich in der Praxis of¬
fenbar als überflüssig und graphisch unorganisch, weshalb wir ihnen auch bei In¬
schriften aus der Zeit des Claudius nur selten begegnen. Und für das Antisigma des
Claudius gibt es in den epigraphischen Dokumenten des römischen Schrifttums viel¬
leicht überhaupt kein verbürgtes Beispiel.
Interessant ist bei den Römern auch die Entwicklung der graphischen Form der
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