KAPITEL II. RÖMISCHE INSCHRIFTENSCHRIFTEN
DIE ÄLTESTEN erhaltenen Denkmäler der Lateinschrift stammen aus der Zeit vor
etwa zweieinhalbtausend Jahren.. Begreiflicherweise können dies nur Inschriften auf
sehr beständigen Materialien sein, denen die destruktiven Einflüsse einer so langen
Zeit nichts *anhaben konnten. Doch die Inschriften auf derartigen epigraphischen
Stoffen sind eigentlich die einzigen Dokumente der Entwicklung der Lateinschrift bis
knapp vor den Beginn unserer Ära, und ihre Schrift wurde zum Ausgangspunkt der
Entwicklung zu weiteren Formen der Lateinschrift. Darum können wir natürlich auch
nicht anders mit der Übersicht dieser Entwicklung beginnen als bei den Formen
altrömischer Inschriften, also bei solchen Schriften, die insgesamt Gegenstand der
lateinischen Epigraphie sind. Obwohl diese historische Hilfswissenschaft ganz anderen
Zwecken dient als unser nur auf die Formprobleme der Lateinschrift ausgerichtetes
Studium, ist sie für uns dennoch eine Hauptquelle für Erkenntnisse, auf Grund welcher
wir es wagen können, gewisse eigene Rückschlüsse in Dingen außerhalb des ihr vor¬
behaltenen Interessenbereichs zu ziehen. Die epigraphische Literatur ist eigentlich
die einzige verläßliche Quelle für Beispiele der ältesten Entwicklung unserer Schrift,
auf die diejenigen, die nicht in Italien leben, fast ausschließlich angewiesen sind. In
dieser Hinsicht sei vor allem das großartige vielbändige Werk Corpus Inscriptionum
Latinarum genannt, das leider nur in einigen Bänden auch Abbildungen der In¬
schriften bringt. Ritschls Werk Priscae Latinitatis Monumenta Epigraphica hingegen
ist für uns vor allem wegen der Abbildungen von Inschriften aus älterer Zeit wichtig,
während Hübners Exempla Scripturae Latinae eine ansehnliche Sammlung von Bei¬
spielen lateinischer Inschriften aus der römischen Kaiserzeit enthalten. Die Abbil¬
dungen beider letztgenannter Werke sind jedoch auf Grund von Zeichnungen nach den
Originalen und nicht unmittelbar auf photographischem Wege angefertigt. Das hat
zwar seinen Vorteil, aber auch manche Schattenseiten, und so muß man leider manch¬
mal feststellen, daß diese grundlegenden Arbeiten trotz der Bürgschaft hervorragen¬
der Autoritäten auf diesem Gebiet im Abbildungsteil nicht immer bis in alle Einzel¬
heiten authentisch sind. Die einzige auf photomechanischem Wege angefertigte Aus¬
wahl epigraphischer Beispiele, Diehls Inscriptionae Latinae, ist wiederum viel zu
knapp gehalten, um uns zu genügen. Eine wesentlich breitere Auswahl lateinischer,
mit modernen Techniken und nach den Grundsätzen der modernen Wissenschaft re¬
produzierter Inschriften verspricht das Album of Dated Latin Inscriptions Arthur
E. Gordons zu werden. Bisher ist jedoch erst der erste Band (1958) mit 159 datierten
Inschriften von Augustus bis Nerva aus Rom und Umgebung erschienen, so daß vor¬
läufig nicht einmal dieses ausgezeichnete Werk uns ältere Quellen ersetzen kann.
Neben solchen Hauptwerken steht natürlich eine lange Reihe epigraphischer Ver¬
öffentlichungen mit mehr oder weniger zahlreichen Bildbeispielen, die manchmal die
in diesem umfangreichen Kapitel zusammengefaßten Erkenntnisse berichtigen helfen.
Römische Inschriften haben sich im ausgedehnten Bereich des einstigen römischen
Imperiums in großer Menge erhalten, aber von der Gesamtzahl von mehr als 150 000
dieser Denkmäler ist bisher nur der kleinere Teil so publiziert worden, daß dies dem
RÖMISCHE INSCHRIFTENSCHRIFTEN
Studium der Schrift zugute kommt. Es handelt sich übrigens um ein sehr verschieden¬
artiges Material, denn die lateinische Epigraphie faßt sämtliche auf sog. epigraphischen
Materialien lateinisch geschriebenen Dokumente zusammen, also alle Texte außer
den auf paläographischen Materialien, d. h. auf Papyrus und Pergament geschrie¬
benen Schriftstücken. Zu den monumentalen Inschriften auf Stein und Metall haben
sich durch diese Klassifizierung auch ausgesprochen kursive graffiti und Rechnungs¬
konzepte auf Wachstafeln gesellt, die mit dem Charakter ihrer Texte und vor allem
ihrer Schrift unzweifelhaft zum Interessenbereich der Paläographie gehören. So ge¬
schah es, daß sich unter diesen lateinischen Inschriftenschriften nicht nur solche Kur¬
sivschriften, sondern auch verschiedene Steinmetzreproduktionen anderer Formen der
römischen Handschriftenschriften finden. Wir sollten uns in diesem Kapitel mit der¬
artigen übernommenen Formen überhaupt nicht befassen, und es wäre vielleicht
richtig, sie erst im Zusammenhang mit ihren handschriftlichen Prototypen durchzu¬
nehmen. Von diesem Grundsatz habe ich mich jedoch selbst nur teilweise leiten lassen.
Ich habe zwar aus der Kategorie der Inschriftenschriften verschiedene ausgesprochen
geschriebene Kursiven entfernt, nicht aber gewisse Modifikationen formaler Hand¬
schriftenschriften, die in epigraphischer Technik und auf epigraphischem Material
einen in hohem Maße unterschiedlichen und bezeichnend epigraphischen Charakter
erhalten haben. Hauptgegenstand unseres Studiums wird in diesem Kapitel jedoch
vor allem die Entwicklung der römischen Inschriftenschriften im engeren, graphischen
Sinn des Wortes sein, also solcher Schriften, deren Form sich unter dem Einfluß und
aus der Gesetzmäßigkeit der Technik der Bearbeitung monumentaler Inschriften in
Stein entwickelte. Allerdings brauchte es eine sehr lange und allmähliche Entwicklung,
bevor die römische Schrift von ihren primitiven Anfängen in der Frühzeit der Ge¬
schichte zu den höchsten Monumentalformen der klassischen Periode emporstieg.
Die Geschichte der Lateinschrift beginnt fast gleichzeitig mit der Geschichte Roms.
Die Stadt Roma, Mittelpunkt der zivilisierten Welt im ganzen folgenden Jahrtausend,
entstand durch den Zusammenschluß einiger selbständiger Gemeinden auf mehreren
Hügeln über dem Fluß Tiber, die vom Stamm der irgendwann im 9. Jahrhundert auf
die Apeninnenhalbinsel zugewanderten Latiner gegründet und besiedelt worden wa¬
ren. Nach römischer Überlieferung fällt die Stadtgründung schon in das Jahr 753
v. Chr. Sie soll das Verdienst des legendären Romulus gewesen sein, aber in Wirklich¬
keit war es zweifellos eine fremde etruskische Dynastie, die an der Wende des 7. und
6. Jahrhunderts die Herrschaft über die römischen Gemeinden an sich riß und sie zu
einem einheitlichen Stadtstaat, dem römischen Königreich, machte. In dieser Zeit der
Fremdherrschaft wuchs Rom sowohl territorial als auch machtpolitisch und kulturell.
Erst durch etruskische Vermittlung sollen die Römer die Hochkultur der griechischen
Kolonien in Süditalien und Sizilien kennengelernt und erst auf dieser Stufe aus der
griechischen und griechisch-etruskischen materiellen Kultur zu schöpfen begonnen
haben, um auch die Prinzipien ihrer Kunst zu übernehmen und sich die Voraus¬
setzungen eines höheren Geisteslebens anzueignen.
Die wichtigste dieser Voraussetzungen war natürlich die Kenntnis der Schrift, aber
bezüglich des Wegs, auf dem sie zu den Römern gelangte, herrscht bekanntlich keine
Übereinstimmung. Es gibt zwar Gründe für die Vermutung, daß dies erst in jener
Zeit durch etruskische Vermittlung geschah, aber ebensowenig kann man Zweifel
darüber ausschließen, daß ein so begabtes und alle nützlichen Anregungen schnell