DIE VORGESCHICHTE DER LATEINSCHRIFT
Orten des alten Etruriens (Capena, Viterbo, Altegna, Colle, Narce, Leprignano) ent¬
halten zwar schon eine Anzahl graphischer Formen der italischen Schriften, aber im
ganzen bestätigen sie unmißverständlich ihre Abstammung vom westgriechischen Al¬
phabet, das die Etrusker somit offenbar direkt in dessen griechischer Heimat unmit¬
telbar nach seiner Entstehung und nicht erst, wie man früher vermutete, in den
griechischen Kolonien kennengelernt haben mußten. Diese protoetruskische oder PRO-
TOTYRRHENISCHE SCHRIFT, wie sie in neuerer Zeit nach Gardthausen genannt
wird, bzw. di ç. pelas gische Schrift, wie man sie früher (Taylor) manchmal nannte, stellt
demnach die erste Form der italischen Schriften dar, und sie ist offensichtlich sehr alt,
denn ihr Alphabet enthält mehrere altsemitische Zeichen, ^ die auch in der westgrie¬
chischen Schrift nur vereinzelt vorkamen, z. B. das semitische samekh für den Laut s
oder das Zeichen schin in Gestalt unseres Buchstabens M für den Laut s.
Das Volk der Etrusker, durch dessen Vermittlung das griechische Alphabet auf die
Apeninnenhalbinsel gelangte, tritt übrigens im bunten Mosaik der italischen Volks¬
gruppen in der Frühzeit dieses Landstrichs am ausgeprägtesten in Erscheinung. Ver¬
mutlich nicht indogermanischer Herkunft, siedelten sich die Etrusker seit dem Beginn
des i. Jahrtausends v. Chr. nach und nach zwischen den Flüssen Arno und Tiber an,
d. i. etwa im heutigen Toskana. In ihren neuen Wohnsitz scheinen sie aus ihrer alten,
bisher noch unbekannten Heimat ihre östliche Zivilisation mitgebracht zu haben, die
sich jedoch durch den Kontakt mit dem Griechentum schnell assimilierte. Derselbe
Kontakt vermittelte ihnen auch die Kenntnis der Schrift. Die ältere Ansicht, daß die
etruskische Schrift (Abb. 20) sich direkt aus der phönikischen entwickelt habe, wurde
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IQ. Prototyrrhenische Schrift, etwa 8.-y. Jahrhundert v. Chr.
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DIE VORGESCHICHTE DER LATEINSCHRIFT
von der Forschung im Einklang mit der Aussage des Tacitus widerlegt. Die erhaltenen,
bisher jedoch noch nicht entzifferten etruskischen Inschriften sind zwar größtenteils
zu kurz, um als Schlüssel zur Erforschung der Sprache, Geisteskultur und Geschichte
Etruriens, die wir nur aus ägyptischen und römischen Quellen kennen, zu dienen, aber
mit Bestimmtheit geht daraus hervor, daß es sich um ein der griechischen Schrift
westlichen Typus nahestehendes Lautalphabet handelt, vor allem auf Grund des gra¬
phischen Aspekts der unausgeglichenen Form der Zeichen in den ältesten Inschriften
des 7- Jahrhunderts v. Chr. Sie werden von rechts nach links gelesen, nach orienta¬
lischer Gewohnheit, von der sich die Griechen ihrerseits eben erst abzuwenden be¬
gannen. Bei Inschriften aus späterer Zeit, wie auf dem sog. Stein von Perugia aus dem
5. Jahrhundert v. Chr., nimmt die etruskische Schrift die Stilordnung einer ausge¬
glichenen epigraphischen Majuskel an. Manche Buchstaben erhalten eine ausgegli¬
chene Zeichnung und behalten sie, wie zum Beispiel der Buchstabe A mit bogenförmig
gekrümmtem linkem Schaft, der Buchstabe M in einer Form, die manchmal an die
spätrömische Minuskel erinnert, und vor allem der Buchstabe F in Gestalt der ara¬
bischen Ziffer 8. Die noch auf Inschriften vom Ausgang des 1. Jahrhunderts v. Chr.
vorkommende Schrift ist — wenngleich sich die Etrusker schon seit dem 3. Jahrhundert
mit dem Verlust ihrer politischen Souveränität zu Gunsten der jungen römischen
Republik zu romanisieren begannen - einigen Autoren zufolge ein wichtiger Mark¬
stein in der Entwicklung der Lateinschrift, die aus der erstgenannten noch zur Zeit
der etruskischen Vorherrschaft entstanden sein soll.
Vno der Blüte der etruskischen Kultur profitierten nahezu alle italischen Stämme
außer in Süditalien, das sich als griechische Kolonie unter direktem griechischem
Einfluß entwickelte und in allem einen durchaus griechischen Charakter gewann. Wie
die Veneter und Ligurer im Norden, übernahmen auch die Italiker der umbro-
oskischen und der latino-faliskischen Gruppe neben anderen Früchten der etruskischen
Kultur meist auch die etruskische Schrift. Das beweist u. a. die umbrische Schrift (Abb.
21), die sich in einer Reihe kürzerer Inschriften und vor allem auf den Inschriften der
sieben Bronzetafeln von Iguvium aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. erhalten hat. Diese
von rechts nach links geschriebenen Inschriften sind bemerkenswert durch die Zwei¬
sprachigkeit ihrer Texte, da sie umbrisch und lateinisch abgefaßt sind, was den mo¬
dernen Forschern ihre Lesung leicht machte. In der umbrischen Schrift, die im übri¬
gen offensichtlich von einer jüngeren Form der etruskischen Schrift etwa im 6. oder 5.
Jahrhundert v. Chr. abgeleitet ist, tritt als nationale Abweichung ein neues Zeichen
für den Laut rsch (etwa wie r im Tschechischen) und ein Zeichen für ç mit der Be¬
deutung des deutschen tsch in Erscheinung. Die oskische Schrift (Abb. 22) unterscheidet
sich gleichfalls nur durch ähnliche geringere Abweichungen vom etruskischen Alpha¬
bet, von dem sie ebenfalls im 6. oder 5. Jahrhundert v. Chr. abgeleitet wurde. Be¬
merkenswert ist sie jedoch durch die Qualität ihrer Schriftgestaltung, zu der sie in
Inschriften aus jüngerer Zeit heranreifte. So ist beispielsweise die Schrift einer oski-
schen Inschrift aus dem 2. Jahrhundert v. Chr., die in Pompeji gefunden wurde, das
Muster einer schönen Majuskel mit stabilisierter, verhältnismäßig fetter Zeichnung
des Schriftbilds der einzelnen Zeichen, deren Schäfte und andere gerade Striche eine
graphisch interessante Erweiterung in Form diskreter Serifen abschloß, die im dama¬
ligen Italien noch ein seltenes Element waren. Neu ist im oskischen Alphabet sodann
die Form des Buchstabens i, ebenso wie ein Zeichen für das lange ú in Gestalt der
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