DIE VORGESCHICHTE DER LATEINSCHRIFT
Die ältesten Dokumente der archaischen griechischen Schrift sind die Inschrift auf
einer Dipylonvase des 8. Jahrhunderts und Grabinschriften des y. Jahrhunderts v. Chr.,
die auf den Inseln Thera und Melos entdeckt wurden. Die Schrift dieser Inschriften
unterscheidet sich in graphischer Hinsicht kaum von ihrem semitischen Vorbild und
sogar die landesübliche östliche Praxis des Schreibens von rechts nach links ist hier
übernommen. Im 6. Jahrhundert kommen sodann Inschriften vor, die in einer bustro-
phedon genannten Weise geschrieben sind: die geraden und ungeraden Textzeilen
wurden abwechselnd von rechts und von links geschrieben, etwa so, wie ein Bauer
bei der Feldarbeit seine Furchen zieht. Dabei wird in den von links geschriebenen
geraden Zeilen auch das Schriftbild spiegelverkehrt wiedergegeben. Dieser Wechsel
der Schreibrichtung hielt sich nicht lange und wurde, vielleicht weil das Schreiben
der geraden Zeilen des bustrophedon den Griechen leichter fiel oder mehr ihrem
Nationalcharakter entsprach, durch eine ausschließlich von links ausgehende Schrift
aus spiegelverkehrten Zeichen des angepaßten semitischen Alphabets ersetzt. Das
älteste Beispiel dieser neuen Schrift westlicher Prägung von der Wende des 8. und
7. Jahrhunderts v. Chr. ist, wie es scheint, eine Ausnahme, zu einer Zeit, da das
bustrophedon offenbar noch allgemein geläufig war. Es handelt sich um jene Reihe
berühmter Inschriften auf dem Fuß eines der Kolosse, die den Eingang zum königli¬
chen Felsengrab im ägyptischen Abu-Simbel bewachen. Eine davon geben wir hier
als Beispiel der ostgriechischen Schrift (Abb. 17) wieder. Diese Inschriften, die die
Nachricht über eine Expedition griechischer Söldner im Dienst des Königs Psamme-
tich in die Gegend oberhalb des zweiten Nilkatarakts enthalten, sind zugleich das
älteste datierbare griechische Schriftdenkmal. Der genannte König war entweder der
erste (654-617) oder zweite (594-589) seines Namens, und die Inschriften können
demnach mit völliger Sicherheit um 600 v. Chr. datiert werden (Thompson). Und
sie sind noch bemerkenswerter durch die Tatsache, daß sie von einfachen Söldnern
auf gleiche Weise in den Stein des altägyptischen Denkmals eingegraben wurden wie
sich Schuljungen, Liebende und Besucher denkwürdiger Stätten heute noch auf Bän¬
ken, Bäumen und Wänden verewigen. Wir haben hier also einen schlagenden Beweis
für die ungewöhnliche Verbreitung des Schreibens und Lesens in den breiten Schichten
der griechischen Bevölkerung dieser frühen Zeit.
Mit Bedauern müssen wir davon absehen, der Entwicklung der ostgriechischen
Schrift weiter zu folgen. Die besondere Zielrichtung unseres Studiums und die Rück¬
sicht auf den zulässigen Umfang dieses Buches zwingen uns, die verlockende Gelegen¬
heit, all die schönen Formen kennenzulernen, die die Entwicklung seit dem archaischen
griechischen Alphabet im Bereich der griechischen Kultur hervorbrachte, ungenutzt
zu lassen. Wenn die noch im Altertum aus dem griechischen Alphabet entstandenen
Schriften - so zum Beispiel die thrakische, mazedonische, illyrische, phrygische und
die Schrift der Eteokreter, des Rests der ursprünglichen Bevölkerung Kretas - leider
nicht in unser Programm passen, ebenso wie die später aus derselben Quelle abge¬
leitete karische, lykische, lydische, koptische, armenische und georgische Schrift, so
würden anderseits die alten germanischen Runen, die um das 3. Jahrhundert größten¬
teils aus der griechischen Unziale entwickelt wurden, mit einer weiteren germanischen
Schrift, der westgotischen Unziale aus dem 4. Jahrhundert, unsere Aufmerksamkeit
verdienen. Bedauerlich ist auch, daß wir keine ausführliche Beschreibung der Geburt
und Entwicklung der slawischen Schriften, einer weiteren Modifikation der ostgrie¬
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DIE VORGESCHICHTE DER LATEINSCHRIFT
chischen Schrift, in unser Programm aufnehmen können, denn dieser Stoff würde
einen umfangreichen Sonderabschnitt erforderlich machen. Das würde uns zu weit
von der direkten Entwicklung zu unserer heutigen Schrift ablenken, fort von jener
Richtung, die durch den westlichen Zweig der archaischen griechischen Schrift an¬
geregt wurde.
Zur genannten Gruppe gehörte die Schrift der von der Stadt Chalkis gegründeten
euböischen Kolonie Kymai (Cumae) in Kampanien nahe beim heutigen Neapel.
Diese Gegend war - ausgenommen das Gebiet der Messapier, eines Volkes unbe¬
kannter Herkunft - in der Frühgeschichte Italiens völlig gräzisiert worden. Die Zei¬
chen dieses westgriechiscl¡en Alphabets (Abb. 18) lassen erkennen, daß es sich in
mancher Hinsicht vom archaischen griechischen Alphabet unterschied, obwohl seine
phönikische Herkunft nach wie vor unzweifelhaft durch Vorkommen und Zeichnung
vereinzelter semitischer Formen belegt ist. Diese Formen wurden später, im klassischen
griechischen Alphabet, fortgelassen oder durch andere ersetzt. Aus dieser italischen
Form der griechischen Schrift als einzigem Vorbild entstand dann der klassischen
älteren Hypothese zufolge eine ganze Reihe italischer Schriften, denn jede Volks¬
gruppe schuf nach diesem Muster ihr eigenes Alphabet, wie es die Besonderheiten
ihrer Sprache verlangten. Aus diesen Bedürfnissen ergab sich eine entsprechende Aus¬
wahl von Zeichen des griechischen Alphabets, und so unterschieden sich das etruski¬
sche, umbrische, oskische, das faliskische Alphabet, das lateinische und andere italische
Alphabete oft beträchtlich voneinander. Die gemeinsame Herkunft aller läßt sich
jedoch stets durch den bloßen Vergleich leicht feststellen. Diese enge Beziehung zwi¬
schen der griechischen und den altitalischen Schriften war schon im Altertum bekannt
und wurde von der modernen Forschung nur von neuem bestätigt. Nicht bestätigt
hat sich jene Vermutung der klassischen Theorie über die Anfänge der Schrift auf der
Apeninnenhalbinsel (Kirchhoff, Gardthausen), der wir in allen Handbüchern älteren
Datums begegnen : daß sämtliche italischen Schriften von einem einzigen Muster her¬
kämen, nämlich der Schrift der zuvor erwähnten euböischen Kolonie Kymai. Denn
es ist mehr als zweifelhaft, daß diese griechische Kolonie in Italien schon im 8. Jahr¬
hundert gegründet wurde, zu einer Zeit, aus der sich unanfechtbare Nachweise der
alten heimischen Schriften Italiens erhalten haben (Hammarström, Grenier, Jensen,
Février).
Eine willkommene Erleichterung des Studiums der ersten Entwicklungsphasen der
Schrift in Italien brachte der glückliche Zufall, daß sich in den südlichen Bezirken
Etruriens nicht nur Inschriften, sondern auch vollständige Buchstabenverzeichnisse
aus der Zeit vor und nach 700 v. Chr. erhalten haben. Das älteste dieser Alphabete
aus der Zeit um oder vielmehr vor 700 befindet sich auf dem oberen Rand eines Elfen¬
beintäfelchens aus Marsiliana, das zweifellos als Lehrbehelf beim Schreibunterricht
diente (Abb. 19a). Das große Alter dieses Denkmals bezeugt nicht nur der archäolo¬
gische Befund, sondern auch die Schreibrichtung von rechts nach links. Nur um we¬
niges jünger ist ein schon von links nach rechts geschriebenes Paar von Alphabeten
auf einer in Formello bei der etruskischen Stadt Veji gefundenen Vase (Abb. igb,c).
Es folgt das Alphabet auf der sog. Regolini-Galassi-Vase eines Fundes aug Cerveteri,
dem Caere des Altertums (Abb. igd). Ein weiteres, aber unvollständiges derartiges
Alphabet ist in die Felswand eines etruskischen Grabes bei Siena eingemeißelt (Abb.
19e). Alle diese und weitere archaische etruskische Alphabete aus Funden an anderen
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