DIE VORGESCHICHTE DER LATEINSCHRIFT
in Frage stellt und die Entstehung beider Epen ungefähr in die zweite Hälfte des
8. Jahrhunderts rückt, scheint es doch ausgeschlossen, daß ein so intelligentes Volk,
als das sich die Griechen in allem und so früh erwiesen, in einer Zeit, da alle seine
Nachbarn im östlichen Mittelmeerraum die Schrift kannten und ausgiebig verwende¬
ten, lange ohne diese ausgekommen wäre. Die Griechen selbst erzählten mehrere
Legenden über die Entstehung ihrer Schrift. Nach einer erfand sie Hermes, der Göt¬
terbote und Gott des Handels. Damit ist der Ursprung der griechischen Schrift, und
das ist wichtig, mit den praktischen Bedürfnissen des Handels verbunden. Eine andere
Legende schreibt die Erfindung der Schrift den Musen zu, den Töchtern Apollos, des
Gottes der Kunst. Einer weiteren Legende zufolge war es der halbmythische Kadmos,
der phönikische Gründer der Stadt Theben, der den Griechen schon um die Mitte des
2. Jahrtausends die Schrift gebracht haben soll. Diese Erklärung erwähnt auch Hero-
dot, der bezeugt, daß Inschriften dieser Herkunft noch zu seiner Zeit, im 5. Jahr¬
hundert v. Chr., lesbar waren. Der phönikische Ursprung der griechischen Schrift
wurde im Einklang mit dieser Legende auch von der modernen Forschung bestätigt,
und der enge Zusammenhang zwischen der ARCHAISCHEN GRIECHISCHEN
SCHRIFT (Abb. 16) und dem nordsemitischen Alphabet läßt sich im ganzen sehr
leicht nachweisen. Es genügt, die frühen Formen zu vergleichen, um den phönikischen
Ursprung der griechischen Schrift genügend deutlich zu machen. Dieser Nachweis
läßt sich darüber hinaus sogar durch die bedeutsame Übereinstimmung der Reihen¬
folge und der Bezeichnungen der Buchstaben beider Alphabete erbringen : alef-alpha,
beth-beta, gimel-gamma, daleth-delta usw. Sicher können wir jener Legende keinen
Glauben schenken, die von der so fernen Zeit der Anfänge der griechischen Schrift
spricht und berichtet, daß die Griechen sie an einem ganz bestimmten Ort ihres
zerstreuten Siedlungsbereichs kennengelernt hätten, von wo sie sich dann auf das
übrige Hellas verbreitet habe. Solcher Zentren gab es sicher eine ganze Reihe an den
Berührungspunkten mit dem phönikischen Element, und von da strahlte die Kenntnis
der Schrift nur in die allernächste Umgebung aus. Darum können wir auch feststellen,
daß das archaische griechische Alphabet, obwohl es in allen Gegenden des griechi¬
schen Siedlungsbereichs mehr oder weniger dasselbe war, gewisse lokale Varianten
erkennen läßt, die mit seiner Entstehung in verschiedenen Zentren und unter den
damit verbundenen verschiedenartigen lokalen, sprachlichen und anderen Einflüssen
Zusammenhängen. Die Sage vom Alphabet des Kadmos als einer für alle Griechen
einheitlichen Schrift ist in diesem Sinn wirklich eine nur zur Hälfte wahre Legende.
Die alten Griechen konnten allerdings mit der phönikischen Schrift nirgendwo zu¬
gleich deren Anwendungsmethode übernehmen. Infolge des konsonantischen Prinzips
war dieses semitische Alphabet auf die griechische Sprache nur schwer anzuwenden,
weshalb die Griechen, wahrscheinlich nach dem Vorbild der Aramäer, gewissen kon¬
sonantischen Zeichen des phönikischen Alphabets die Bedeutung von Vokalen unter¬
legten. Damit bewiesen sie ihre Fähigkeit, fremde Errungenschaften nicht nur nicht
blind zu übernehmen oder sich ihnen gar anzupassen, sondern sie im Geist ihres
Volkscharakters umzuformen. Einige weitere im Griechischen nicht verwendbare Zei¬
chen wurden fortgelassen, während andere neu hinzukamen. Die folgerichtige und
ständige Erweiterung des Alphabets um zusätzliche Vokalzeichen stellte die größte
Neuerung und den bedeutsamsten Beitrag der griechischen Schrift dar, die solcherart
zur Quelle und zum Vorbild aller Formen und Gattungen der europäischen Schriften
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DIE VORGESCHICHTE DER LATEINSCHRIFT
wurde, zur grundlegenden Voraussetzung der Entfaltung des europäischen Geistes¬
lebens.
Lokaler Varianten einer Anpassung des semitischen Alphabets an die verschiedenen
Dialekte der griechischen Stämme gab es in der ältesten Periode eine ganze Reihe
aber ihre Bedeutung und ihr Einfluß auf die weitere Zielrichtung der formalen Ent¬
wicklung, um die es uns hier vor allem zu tun ist, war im großen und ganzen gering,
denn m formaler Hinsicht ist die graphische Konstruktion der Zeichen aller Versionen
des griechischen Alphabets mehr oder minder die gleiche, nur wurden sie manchmal
anders gelesen. Für unser Studium wird es also genügen, wenn wir uns auf den bloßen
Hinweis beschränken, daß alle diese Varianten nach A. Kirchhoff in zwei große Grup¬
pen eingeteilt werden können: eine östliche und eine westliche. Die ostgriechische Schrift
stellt sodann die Summe der Varianten dar, die in den ionischen Kolonien an der
kleinasiatischen Westküste und auf den ihr vorgelagerten Inseln, in Megara, Argos,
Korinth und deren sizilianischen Kolonien sowie im attischen Bereich — in Athen,
Salamis, auf Naxos und einigen anderen Inseln — in Gebrauch waren. Bei den klein¬
asiatischen Ioniern machte das Alphabet die für das Griechische günstigste Entwicklung
durch, weshalb es mit der Zeit zur Grundlage der Nationalschrift aller Griechen
wurde. Die westgriechische Schrift umfaßt die Gruppe der auf dem übrigen Peloponnes,
in Thessalien, Euböa, Lokris, Böotien und in den achäischen und chalkidischen Ko¬
lonien in Italien und Sizilien verwendeten Schriften. Für die weitere Entwicklung
der griechischen Schrift waren diese westlichen Varianten jedoch bedeutungslos, und
sie unterlagen auch bald dem Übergewicht des ionischen Alphabets. Auf der anderen
Seite ist der Einfluß der westlichen Form des griechischen Alphabets auf die Ent¬
stehung des lateinischen umso bedeutsamer.
Die Abhängigkeit des archaischen griechischen Alphabets von seinem semitischen
Vorbild ist in der Tat bemerkenswert. Einige Buchstaben sind getreue Übertragungen
phönikischer Zeichen, z. B. die Paare gimel-gamma, daleth-delta, he-epsilon, zajin-
zeta, teth-theta, mem-mi, nun-ni, ajin-omikron, gof-kappa und resch-rho. Der Buch¬
stabe sigma kommt durch die bloße Drehung des Zeichens schin um 90o zustande.
Andere Buchstaben unterscheiden sich in manchen Inschriften nur durch kleine
Abänderungen von der semitischen Vorlage, z. B. der Buchstabe beta durch Hinzu¬
fügung einer weiteren Schleife zum Zeichen beth. Auch eta, kappa und andere Zei¬
chen stellen nur geringfügige Vervollkommungen entsprechender phönikischer Buch¬
staben dar. In der folgenden Entwicklungsphase der lokalen Gruppen des Ostens und
Westens bildeten sich neue Zeichen für ypsilon, ksi, fi, chi, psi und omega heraus, die
im wesentlichen gleichfalls aus Formen des semitischen Alphabets entwickelt wurden.
In dieser Periode kommen manche Zeichen in mehreren Varianten vor. So etwa wird
der Querbalken im Buchstaben alpha im schrägen Winkel entweder zum linken oder
zum rechten Hauptbalken oder auch horizontal in der Mitte des Zeichens angesetzt.
Der Buchstabe beta pflegt eine scharfe oder runde Schleife zu haben, während gamma
sogar in fünf Formen vorkommt, entweder mit geneigtem Querstrich wie im semi¬
tischen Zeichen gimel oder mit horizontalem wie im klassischen griechischen Alpha¬
bet, oder gar in der Form des späten Buchstabens lambda oder auch des runden oder
winkelig geknickten Lateinbuchstabens C. Derartige Varianten gibt es in diesen Alpha¬
beten eine ganze Reihe, aber für unsere Zwecke würde es zu weit führen, wenn wir
uns mit ihnen eingehender befassen wollten.
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