DIE VORGESCHICHTE DER LATEINSCHRIFT
vor Bauer geäußert (Lidzbarski, Kalinka, Dussaud) und ist bis heute nicht ganz auf¬
gegeben worden, obwohl man in letzter Zeit über Hans Bauers eigene Theorie nicht
mehr viel spricht. Einige ihrer Grundsätze, vor allem die Negation der Unvermeid-
lichkeit vorhergehender graphischer Einflüsse auf die Gestaltung der einzelnen Zeichen
des nordsemitischen Alphabets und damit zugleich die Negation der kategorischen
Notwendigkeit ihrer Entstehung aus primären Piktogrammen nach dem akropho-
nischen Prinzip, kommen dessenungeachtet immer wieder auch in den neuesten
wissenschaftlichen Arbeiten auf diesem Gebiet vor (Diringer 1957). Wenngleich ich
nicht leugnen kann, daß mir diese Ansicht persönlich zusagt, muß ich doch vor allzu
voreiligen Urteilen in diesen eminent wissenschaftlichen Fragen warnen, denn der
vorliegende, nur sehr unvollständige Auszug aus verschiedenen Theorien über den
Ursprung unserer Schrift will lediglich zu einer annähernden Vorstellung der unge¬
wöhnlichen Schwierigkeit und Kompliziertheit dieses Problems führen, eines Problems,
das, ich möchte es nochmals betonen, bisher nicht endgültig gelöst ist.
Was also noch aussteht, ist eine kurze Zusammenfassung der erwiesenen Tatsachen,
so wie sie uns der heutige Stand der Wissenschaft vermittelt. Als ganz unzweifelhaft
kann gelten, daß das konsonantische Prinzip des nordsemitischen Alphabets zwar von
den ägyptischen Hieroglyphen herrührt, aber daß es hier konsequent und eindeutig
angewandt wurde. Was den graphischen Charakter des nordsemitischen Konsonanten¬
alphabets betrifft, können wir nur konstatieren, daß etwa gleichzeitig vor der Mitte
und in der zweiten Hälfte des 2. Jahrtausends v. Chr. einige graphisch verschiedene,
aber prinzipiell gleichartige Systeme entstanden, außer der archaischen phönikischen
Schrift beispielsweise auch jene der protosinaitischen Inschriften, die pseudohiero-
glyphische Schrift von Byblos, die ugaritische Keilschrift, die kanaanäische Schrift
der Funde von Gezer, Lachisch u. a. Das bedeutet, daß der gesellschaftliche Bedarf
eines einfachen demokratischen phonetischen Alphabets, das die komplizierten theo-
kratischen Schriftsysteme der in ihrer Entwicklung erstarrten zeitgenössischen Gro߬
mächte ersetzen konnte, zu ebenjener Zeit und in ebenjenem Landstrich akut wurde,
und daß man ihm mancherorts durch verschiedene Formen der graphischen Gestal¬
tung entsprach. Von all diesen Formen überlebte nur jene, die sich am besten bewährte,
nämlich das kanaanäisch-phönikische Alphabet. Die graphische Gestaltung der ein¬
zelnen Buchstaben dieses nordsemitischen Alphabets läßt sich zwar in gewissen Fällen
aus verschiedenen anderen Schriften ableiten, aber in anderen Fällen kann man auch
eine unabhängige graphische Lösung voraussetzen. In endgültiger und auch graphisch
stabilisierter Form gedieh das nordsemitische Alphabet in phönikischen Inschriften
vom Beginn des 1. Jahrtausends v. Chr. zu seiner Reife, und diese Schrift exportierten
die Phöniker sodann auf ihren Handelsreisen in alle erreichbaren Gegenden, um sie
damit zur Grundlage der überwältigenden Mehrzahl der bekannten Schriften zu
machen. Aus dem nordsemitischen Alphabet entwickelten sich ganze Gruppen von
Schriften verschiedener Volks- und Kultur komplexe, die sich im Laufe weiterer Jahr¬
hunderte formal wieder so weit voneinander entfernten, daß die Tatsache der gleichen
Herkunft der europäischen, arabischen, hebräischen und der ausgedehnten Gruppe
indischer Schriften dem Laien kaum glaubhaft erscheint. Doch der Gegenstand unseres
Studiums verengt unser Interesse auf den Weg, auf dem die phönikische Schrift nach
Europa gelangte, und auf diesem Weg werden wir weiterhin bereits festeren Boden
unter den Füßen haben als bisher.
■ *
58
¿г' ОП 4^ = ^
b d h z, d
P TXT Ъ \ß/ ^ Ѵ^лл ЛѴ 1—^
h h к 1 ш n
'^> <=> 0 \K
C, g p s, d, z
8 00 Q C-o
q r £ i t
ij. Protosinaitische Schrift, um die erste Hälfte des iß. Jahrhunderts v. Chr.
KjC ЛЛЩ YI
b g d h z
ИѲЗЯѴб))?
h t j klmns
OU99 W+X
' p s q r s t
14. Phönikische Schrift, ältere Form, um das 12.-10. Jahrhundert v. Chr.
bgdhvz h tjk
¿‘7‘/T07/vt 1 m n s ' p s q r 5 t iß. Phönikische Schrift, jüngere Form, etwa seit dem д. Jahrhundert v. Chr. 59