DIE VORGESCHICHTE DER LATEINSCHRIFT
hieroglyphischen Schrift von Byblos wird heute jedoch größtenteils nur auf die Rolle
eines weiteren Beweisstücks der überaus wichtigen Tatsache bezogen, daß es im alten
Syrien schon vor der phönikischen heimische Schriften gegeben hat, die sich dem all¬
gemeinen Verlangen nach einer einfachen alphabetischen Schrift entgegenzukommen
bemühten.
Wir könnten hier noch weitere Theorien nennen, die den Ursprung unseres Alpha¬
bets wiederum anders erklären, zum Beispiel aus der kretischen, der kyprischen Schrift
u. ä. Da es uns hier jedoch nicht um längst fallengelassene Hypothesen zu tun ist,
wollen wir uns auf eine einzige beschränken, die vom graphischen Blickpunkt her
außerordentlich interessant ist. Diese Theorie wurde im Jahre 1935 von dem deutschen
Forscher Hans Bauer entworfen und erst nach seinem Tod unter dem Titel ‘Der
Ursprung des Alphabets’ im Sammelband ‘Der alte Orient’ aus dem Jahre 1937
veröffentlicht. Bauer versuchte darin die bis dahin immer nur als ein einziges Ganzes
behandelte Frage auf neue Weise zu lösen, indem er sie in zwei Fragen teilte: 1. Woher
kommt das Prinzip der alphabetischen Schrift? 2. Woher stammt die eigentliche
Schriftzeichnung der alphabetischen Zeichen?
Was das alphabetische Prinzip betrifft, kann die bedeutsame Tatsache der Existenz
zweier rein konsonantischer Schriften - der ägyptischen und der phönikischen - nicht
mit dem bloßen Hinweis auf die besondere Struktur der beiden Sprachen abgetan
werden, denen die konsonantische Schrift angeblich voll entsprochen habe. In Wirk¬
lichkeit führte die besondere Struktur der ägyptischen Sprache mit ihrer Vielzahl
einsilbiger, nur aus einem Konsonanten und einem Vokal bestehender Worte und
Homonyma offenbar lediglich zur Entdeckung, daß gleichlautende einsilbige Worte
durch das gleiche Zeichen ausgedrückt werden und daß man diesen Grundsatz auch
auf einsilbige Worte mit veränderlichem Vokal ausdehnen kann. Mit dem Konso¬
nantenalphabet, das sie auf diese Weise geschaffen hatten, kamen die Ägypter aller¬
dings nie zurecht, und sie mußten die phonetischen Zeichen im Interesse einer ein¬
deutigen Lesung stets durch erläuternde Ideogramme ergänzen. Damit bewiesen sie
selbst die Unzulänglichkeit des Konsonantensystems für die ägyptische Sprache. Zwei¬
fellos noch weniger entbehrlich waren die Vokale in der semitischen Sprache, wo bei¬
spielsweise schon drei Konsonanten eines geläufigen dreisilbigen Begriffs durch die
Einsetzung verschiedener Vokale zahlreiche verschiedene Bedeutungen zuließen, deren
eine, gerade beabsichtigte, man aus dem Sinn des Textes erraten mußte. Darum
konnten die Semiten mit dem reinen Konsonantenalphabet nur zurechtkommen, so¬
lange ihre Praxis des schriftlichen Vermerks noch nicht so anspruchsvoll war. Zu
literarischen Zwecken mußten sie ihr Alphabet mit der Zeit durch verschiedene Ak¬
zente ergänzen, um die Lesung zu präzisieren und zu erleichtern. Das Konsonanten¬
prinzip ist an sich ein solcher Ausnahmefall und setzt eine so außergewöhnliche Fügung
der Umstände voraus, daß es wohl kaum zweimal entdeckt wurde. Es ist also unwahr¬
scheinlich, daß die Semiten selbst auf eine für sie so schwierige Schreibweise verfielen ;
im Gegenteil scheint außer Zweifel zu stehen, daß sie diese von den Ägyptern über¬
nommen haben. Bezeichnend ist hier, daß die Semiten dem ganzen komplizierten
ägyptischen System gerade das verhältnismäßig einfache, wenn auch noch nicht voll
befriedigende phonetische Prinzip der Konsonantenschrift entnahmen. Das ist den
Ägyptern selbst nie eingefallen. Das Schreiben wurde auf diese Weise stark verein¬
facht, aber der Preis hierfür war die geringere Klarheit. Dieser Mangel wurde erst
DIE VORGESCHICHTE DER LATEINSCHRIFT
von den Griechen, die auch für die Vokale besondere Zeichen einführten, ganz
beseitigt (Bauer).
Wenn wir die ägyptische Herkunft des inneren Prinzips des semitischen phoneti¬
schen Alphabets als unzweifelhafte Tatsache akzeptieren, müssen wir daraus noch
nicht auf die ägyptische Provenienz der äußeren Gestalt der semitischen Schrift, auf
die ägyptische Herkunft der graphischen Formgebung ihrer Zeichen schließen. Das
Prinzip der sog. Akrophonie, die dem Buchstaben den phonetischen Wert des ersten
Lauts jenes Begriffs verleiht, den das entsprechende Piktogramm ursprünglich vor¬
stellte, spielte auch in der primären ägyptischen Schrift anscheinend keine so große
Rolle wie man vermutete. Umso weniger war das offenbar bei der sekundären, eklek¬
tischen semitischen Schrift der Fall. Hier führten die Versuche einer Anwendung des
akrophonischen Prinzips - siehe die Theorien Emmanuel de Rougés u. a. - in der
Regel zu außerordentlich komplizierten Rekonstruktionen. Die sehr alte Ansicht, daß
eine jede, also nicht nur die primäre, sondern auch die sekundäre, abgeleitete Schrift
sich formal unmittelbar aus Piktogrammen entwickelt habe, hat sich als irriges Vor¬
urteil, als Erbe des vorwissenschaftlichen Stadiums der Schriftkunde erwiesen (Bauer).
Im Licht der wissenschaftlichen Kritik scheint die Vermutung, daß jeder Buchstabe
ursprünglich das Bild eines Begriffs gewesen sei, dessen Namen er trägt (z. B. der
semitische Buchstabe alef = Ochs, beth = Haus, gimel — Kamel usw.) wenig fundiert
zu sein. Eine befriedigende Übereinstimmung der Zeichnung eines Buchstabens mit
seinem Namen ist lediglich in einem so geringen Bruchteil der Fälle nachweisbar, daß
man solche Bezeichnungen für zufällig und nachträglich verliehen halten darf, wobei
auch eine entfernte Ähnlichkeit des Zeichens mit dem Gegenstand der Bezeichnung
nur eine gewisse Rolle spielen konnte. Als Beispiel hierfür können die Bezeichnungen
der slawischen Schriftzeichen gelten: az, buki, viedi usw., bei denen selbstverständlich
niemand eine Übereinstimmung mit der Buchstabenzeichnung suchen wird. Aus all
dem ergibt sich, daß die semitischen Buchstaben keineswegs notwendig aus den ägyp¬
tischen entstanden sein mußten und auch nicht aus anderen Piktogrammen, sondern
daß sie wahrscheinlich neu erfunden wurden. Diese Erfindung scheint übrigens nicht
so besonders schwierig gewesen zu sein, denn einfache geometrische Zeichen waren
sicher das erste, was einem jeden, der sich vor eine derartige Aufgabe gestellt sah,
einfallen mochte. Hans Bauer illustriert seine Darlegung durch einige Analogien, deren
überzeugendste ein Versuch ist, den der holländische Professor J. de Groot im Jahre
1931 anstellte, indem er ein neunjähriges Mädchen aufforderte, ein eigenes Alphabet
zu erfinden. Das Ergebnis war überraschend, denn dieses Alphabet, das binnen drei
Minuten fertig war, enthielt sieben Buchstaben phönikischen Charakters, während
andere an Zeichen der kretischen, kyprischen und protosinaitischen Schrift erinnerten.
Wenn wir dazu noch analoge, zeichnerisch ähnlich abgeleitete Steinmetz- und Eigen¬
tumszeichen in Betracht ziehen, müssen wir zugeben, daß die Zeichnung der semi¬
tischen Buchstaben im wesentlichen unabhängig von früheren Vorbildern entstehen
konnte. Auf die Frage nach der Herkunft der graphischen Zeichen des semitischen
Alphabets könnte die Antwort also auch lauten, daß eine solche Frage eigentlich gar'
nicht in Betracht kommt.
Die Ansicht, daß das nordsemitische Alphabet unabhängig entstanden ist, hat für
alle, die sich im graphischen und künstlerischen Schaffen auf eigene Erfahrungen
stützen können, etwas durchaus annehmbares und naheliegendes. Sie wurde schon
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