DIE VORGESCHICHTE DER LATEINSCHRIFT
voll entwickelten nordsemitischen Alphabets. Daraus ergibt sich für manche Forscher
einerseits eine Verschiebung der Datierung der protosinaitischen Inschriften in eine
ebenso ferne Zeit (Gardiner), anderseits ein Rückschluß auf die Existenz eines weiteren
Verbindungsglieds in der Entwicklung von den ägyptischen Hieroglyphen zu unserem
Alphabet. Diese Abfolge sähe demnach folgendermaßen aus:
ägyptische - proto sinaitische - kanaanäische - phönikische Schrift
Obwohl die solcherweise korrigierte ‘sinaitische’ Theorie heute in sehr breiten Kreisen
als endgültige Lösung dieses alten Problems anerkannt wird, hat sie dennoch aus ver¬
schiedenen Gründen nicht die Zustimmung einer ganzen Reihe bedeutender Fach¬
leute. Ein Einwand lautet beispielsweise, daß es nicht angehe, ältere und übrigens noch
nicht entzifferte kanaanäische Inschriften später einzuordnen als die zweifellos jün¬
geren protosinaitischen (Diringer). Es gibt allerdings einige Funde kanaanäischer In¬
schriften auch aus späterer Zeit, etwa aus dem 13. Jahrhundert v. Chr., und auf Grund
dieser Dokumente kann man das obenerwähnte Schema abändern wie folgt :
ägyptische - protokanaanäische - protosinaitische - kanaanäische - phönikische Schrift
Diese neueste Theorie amerikanischer Forscher (Albright, Cross, Freedman) erhält
Unterstützung durch die Tatsache, daß die frühkanaanäische Schrift den primären
Hieroglyphen wirklich am nächsten steht, während in den kanaanäischen Inschriften
des 13. Jahrhunderts abstrakte Zeichen überwiegen. Daraus wird mit Sicherheit ge¬
schlossen, daß das nordsemitische Alphabet akrophonisch aus den ägyptischen Hiero¬
glyphen entstanden ist und die protosinaitischen Inschriften in protokanaanäischen
alphabetischen Zeichen geschrieben sind, und darüber hinaus, daß der syrisch-pa¬
lästinensische Raum den eigentlichen Geburtsort des Alphabets vorstellt. Doch nicht
einmal die so abgeänderte ‘sinaitische’ Theorie konnte akzeptiert werden, ohne einen
beträchtlichen Widerstand hervorzurufen, und W. F. Albright selbst empfielt - wie
hier bereits erwähnt — keine allzu vorschnellen Schlüsse, solange nicht mehr Studien¬
material zur Verfügung steht.
Wenn die graphische Entwicklung des nordsemitischen Alphabets aus den ägypti¬
schen Hieroglyphen bis heute nicht völlig zweifelsfrei erklärt werden konnte und keine
der obenerwähnten Hypothesen universale Anerkennung erlangt hat, nimmt es nicht
Wunder, daß inzwischen auch andere Möglichkeiten einer Darlegung dieser ver¬
wickelten Frage gesucht wurden, und es lag selbstverständlich am nächsten, den zwei¬
ten Brennpunkt der Kultur des Altertums ins Auge zu fassen : Babylonien. Die neuesten
archäologischen Forschungen haben bekanntlich über diesen Kulturkreis Tatsachen
ermittelt, die den Glauben an die Priorität der ägyptischen Kultur erschüttern mußten.
Die Möglichkeit, daß sich unter den Keilschriften Vorbilder des phönikischen Alpha¬
bets fänden, ist im Jahre 1929 durch die Auffindung ugaritischer Inschriften in Ras
Schamra unterstützt worden, die über die bereits bekannte altpersische Silbenschrift
hinaus diesmal bereits einen rein phonetischen Charakter haben. Das ugaritische Al¬
phabet mit seinen 30 Buchstaben setzt sich zum Teil aus Charakteren der babylo¬
nischen Schrift zusammen, aber größtenteils sind seine Zeichen neu erfunden, nach
Ansicht gewisser Forscher durch Vereinfachung, Umkehrung oder Halbierung allzu
DIE VORGESCHICHTE DER LATEINSCHRIFT
komplizierter babylonischer Vorbilder. Da man voraussetzen darf, daß die Schrift des
an der Küste gelegenen Ugarit den Phönikern nicht unbekannt war, weil diese Stadt
nur 160 Kilometer nördlich vom phönikischen Byblos lag und beide Orte in lebhafter
Seehandelsverbindung standen, ergibt sich daraus die natürliche Folgerung, daß eine
der Schriften der beiden Städte von der anderen abgeleitet und diese Abhängigkeit
nur auf phönikischer Seite zu suchen ist (Bauer). Wenn wir mit dieser leider keines¬
wegs nachgewiesenen Abhängigkeit rechnen, erhalten wir die Entwicklungsreihe einer
weiteren Theorie über die Entstehung unserer Schrift, deren erste Stufen folgende
Schriften vorstellen würden:
babylonische Keilschrift - ugaritische Keilschrift -phönikische Schrift
Was den formalen Aspekt der Schriftzeichen betrifft, ist auch diese Darlegung nicht
schlechter daran als die ‘ägyptischen’ Theorien, denn aus einigen ugaritischen Zeichen
kann man verhältnismäßig leicht phönikische ableiten. Beim Großteil der übrigen ist
eine Analogie allerdings auch in diesem Fall nur mit Hilfe allzu spitzfindiger und
komplizierter Rekonstruktionen möglich.
Die Divergenzen der verschiedenen Theorien über die Entstehung des phönikischen
Alphabets sind also durch neue archäologische Funde nicht beseitigt worden. Denn
diese haben das Problem wider Erwarten nicht nur nicht mit der ersehnten Anschau¬
lichkeit erklärt, sondern vielmehr noch weiter kompliziert. Die neuen Entdeckungen
ziehen neue Hypothesen nach sich, und so bleibt nichts anders übrig als hier noch
eine weitere darzulegen, in unserem Fall bereits die vierte. Sie entstand in den Jahren
I929_I935 durch die Entdeckung der pseudohieroglyphischen Schrift von Byblos. Wie
bereits erwähnt, gibt es für einige Zeichen dieser Schrift graphische Analogien im
phönikischen Alphabet. Daraus schloß man damals, daß sich die phönikische Schrift
mit großer Wahrscheinlichkeit graphisch aus dieser älteren altsyrischen Schrift ent¬
wickelt habe, einer B. Hrozny zufolge mit den hethitischen Hieroglyphen wie auch den
kretischen und protoindischen Zeichen verwandten Schrift. Wenn wir das voraus¬
setzen wollten, könnten wir ein weiteres genealogisches Diagramm skizzieren, das
die Frage der Vorgeschichte unseres Alphabets von einer anderen Seite beleuchten
würde; doch die Hypothese B. Hroznÿs fand keine Anhänger, ebenso wie die Ansicht
M. Dunands, der aus einer gewissen graphischen Verwandtschaft der Pseudohiero¬
glyphen von Byblos mit den ägyptischen Hieroglyphen einen unmittelbaren ent¬
wicklungsmäßigen Zusammenhang zwischen den beiden Schriften folgerte. Ein wei¬
terer Fund, den er 1945 in Byblos machte, eine vermutlich alphabetische Inschrift
aus der Zeit um 1400 v, Chr., galt ihm als Beweis des Zusammenhangs zwischen den
Pseudohieroglyphen von Byblos und dem Alphabet der frühen phönikischen Inschriften.
Und so konstruierte er folgende einfache Entwicklungsreihe :
ägyptische Hieroglyphen - Pseudohieroglyphen von Byblos -phönikische Schrift
E)a es sich bei den Pseudohieroglyphen von Byblos, wie E. Dhorme festgestellt hat, um
eine Übergangsstufe der Entwicklung zur alphabetischen Schrift handelt, wurde diese
soeben veranschaulichte Theorie eigentlich zu einer weiteren Variante des Nachweises
einer ägyptischen Abkunft des semitischen Alphabets. Die Bedeutung der pseudo-
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