DIE VORGESCHICHTE DER LATEINSCHRIFT
Jahre 196 v. Chr. und damit des Rätsels der ägyptischen Schrift überhaupt, stand die
französische Ägyptologie in höchster Blüte. Damals also, im Jahre 1859, trat Emma¬
nuel de Rougé in der Pariser Académie des Inscriptions mit einer Theorie hervor, die
er erst 1874 in seinem Werk Mémoire sur l’origine égyptienne de l’alphabet phénicien
publizierte. Er faßte darin die Ergebnisse seiner Untersuchung des damals ältesten
bekannten ägyptischen Papyrus aus dem Prisse-Fund, der in der Bibliothèque Na¬
tionale verwahrt wird, zusammen. In diesem mit hieratischer Schrift geschriebenen
Papyrus aus der Zeit der 11. Dynastie (etwa 2160-2000 v. Chr.) hatte Emmanuel
de Rougé einige Zeichen gefunden, die Buchstaben des phönikischen Alphabets ähnel¬
ten, und daraus den Schluß gezogen, daß man den Ursprung dieser semitischen Schrift
nicht in den Hieroglyphen, sondern in der hieratischen Schrift suchen müsse. Den
Einwand, daß die phonetischen Zeichen beider Schriften nicht dieselben Laute aus-
drücken, widerlegte de Rougé durch die überraschende Feststellung, daß die Phöniker
die hieratischen Zeichen nicht mit ihrem phonetischen Wert übernommen, sondern
zunächst die wörtliche Bedeutung des ursprünglichen ägyptischen Piktogramms in die
eigene Sprache übersetzt hätten, um den übernommenen Zeichen dann den neuen
Wert des ersten Buchstabens des entsprechenden semitischen Wortes zu verleihen.
Seine Theorie schien auch der interessante Umstand zu unterstützen, daß eben diese
Form der hieratischen Schrift in Ägypten auch in den folgenden Jahrhunderten ver¬
wendet wurde, also zur Zeit des Einfalls der Hyksos und der semitischen Dynastien,
und wahrscheinlich auch der biblischen Gefangenschaft Israels in Ägypten. Daraus
schloß man auf eine viel frühere Entstehung des semitischen Alphabets, als es die
bekannten historischen Tatsachen zulassen. Entscheidend war jedoch, daß die Rich¬
tigkeit der Theorie Emmanuel de Rougés auch durch den Vergleich der zu seiner
Zeit ältesten bekannten Beispiele beider Schriften mit größerem oder geringerem Er¬
folg nachgewiesen werden konnte. Darum wurde die Hypothese fast allgemein mit
großer Befriedigung akzeptiert, denn sie ermöglichte es, die älteste Entwicklung un¬
serer Schrift durch ein ganz einfaches Diagramm deutlich zu machen :
demotische
ägyptische Bilderschrift - ägyptische Hieroglyphen - hieratische -
- phönikische Schrift
Es schien also, die Theorie de Rougés habe in der Tat die endgültige Lösung des
Problems gebracht, und darum wurde sie lange und hartnäckig gegen die Zweifel
verteidigt, die nach weiteren Entdeckungen noch älterer Denkmäler beider Schriften
aufkamen. Am Ausgang des 19. Jahrhunderts waren auch schon die einzelnen Etappen
dieser ältesten Entwicklung unserer Schrift abgesteckt und für unanfechtbar erklärt
worden. Das gelang am anschaulichsten im Falle des Buchstaben M, der von der
ägyptischen Hieroglyphe für den gleichen Konsonanten abgeleitet war; dieses durch
den Bildbegriff ‘Eule’ ausgedrückte Zeichen wurde analog zum späteren Koptischen
wie ‘mulad’ gelesen. Im weiteren Ausbau dieser Rekonstruktion der Entwicklung
wurde eine graphische Deformation dieser Hieroglyphe in der Papyrushandschrift
angenommen, aus dieser Deformation sodann eine Weiterentwicklung durch Abbre¬
viatur und weitere Deformation zum hieratischen Zeichen und aus diesem weiter
einerseits zum späten demotischen, anderseits zum frühen phönikischen und aus diesem
wieder zum griechischen, archaisch lateinischen usw. Leider war diese Darlegung
52
DIE VORGESCHICHTE DER LATEINSCHRIFT
nicht bei jedem Buchstaben gleich überzeugend. Trotzdem wird sie von nahezu sämt¬
lichen Autoren populärwissenschaftlicher Schrifthandbücher immer wieder erwähnt.
Einige ordnen in diese Entwicklungsreihe gar die demotische Schrift vor dem phöni¬
kischen Alphabet ein, obwohl die erstere einige Jahrhunderte jünger ist.
Die günstige Aufnahme dieser Hypothese über die ägyptische Herkunft unseres
Alphabets erfuhr jedoch mit der Zeit, die neue Entdeckungen von Schriftdenkmälern
aus dieser und älteren Perioden mit sich brachte, eine merkliche Abkühlung. Unter
den neuen Funden befanden sich auch weitere Dokumente in hieratischer Schrift, und
eben diese sprachen nicht gerade für die Auslegung de Rougés, die sich ganz auf
zufällige, notwendig von der persönlichen Eigenart der Handschrift abhängige Kursiv¬
formen stutzte. Als der Glaube an die Wahrscheinlichkeit einer direkten Beziehung
zwischen der hieratischen und der phönikischen Schrift bedrohlich erschüttert war,
kam den Verfechtern der These von der ägyptischen Abkunft des phönikischen Alpha¬
bets im Jahre 1916 unerwartet die Veröffentlichung eines Fundes zu Hilfe, der schein¬
bar eine neue Möglichkeit der Beweisführung darbot, daß sich das semitische Alphabet
aus den ägyptischen Hieroglyphen und sogar ohne die hieratische Übergangsform
entwickelt habe. Diese vielversprechende Entdeckung war die uns bereits bekannte
protosinaitische Schrift auf Inschriften, deren Entstehung man etwa in die Mitte des
zweiten Jahrtausends v. Chr. datierte, also in eine Zeit, die von jener der ältesten
damals bekannten Denkmäler der phönikischen Schrift genügend entfernt war. Die
bemerkenswerte formale Übereinstimmung zwischen den Zeichen dieser Schrift und
den ägyptischen Hieroglyphen sowie die phonetische Übereinstimmung des protosi-
naitischen Alphabets mit dem phönikischen schien ein unanfechtbarer Beweis der Tat¬
sache zu sein, daß die protosinaitische Schrift jenes bis dahin fehlende und gesuchte
Bindeglied zwischen den ägyptischen Hieroglyphen und der phönikischen Schrift sei.
Und so bot sich hier ein willkommener Ersatz für die hieratische Schrift, die in dieser
Rolle versagt hatte. Nun konnte die einfache Entwicklungsabfolge erneut zusammen¬
gestellt werden, diesmal in folgender Gestalt :
ägyptische Bilderschrift - ägyptische Hieroglyphen - protosinaitische - phönikische Schrift
Doch die Entdeckung einer Inschrift auf dem Grabmal des Königs Achiram, die zu¬
nächst ins 13. Jahrhundert v. Chr. datiert wurde, also in eine nur um weniges jüngere
Zeit, und die die phönikische Schrift auch in graphischer Hinsicht bereits im We¬
sentlichen entfaltet zeigte, ließ Zweifel über die Bedeutung der bis heute übrigens
noch unentzifferten sinaitischen Inschriften aufkommen. Die protosinaitische These
konnte jedoch in letzter Zeit Wiederaufleben, einerseits weil die Datierung des Grab¬
mals Achirams auf das 11.-10. Jahrhundert korrigiert wurde und auch die neuen
Funde älterer phönikischer Inschriften nicht früher datiert werden können als um
1200 v. Chr., anderseits auf Grund weiterer Funde von Denkmälern der protosinai-
tischen Schrift. Sie stammen aus Serabit und auch von außerhalb der Halbinsel Sinai,
und sie ließen die Zahl der protosinaitischen Inschriften in den Jahren 1927-1935 auf
etwa fünfzig ansteigen. Noch wichtiger sind jedoch frühkanaanäische Inschriften, die
m Gezer, Lachisch, Schekem und andernorts in Palästina gefunden wurden. Sie
werden dem 18.-17. Jahrhundert v. Chr. zugeordnet und enthalten zeichnerische
Analogien sowohl protosinaitischer Hieroglyphen als auch der abstrakten Zeichen des
53