323. Kurrentschrift, ig. Jahrhundert.
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KURRENTSCHRIFT
gießers Reinhard Voskens enthalten ist und um 1660 erschien? Später, etwa seit 1713,
bieten auch andere Frankfurter Schriftgießer diese Skript in ihren Musterkatalogen
an. Andere deutsche Skripten, die man bis vor kurzem für die ersten Kurrentdruck¬
schriften hielt, wurden am Anfang des 18. Jahrhunderts von Christian Zingh in Wit¬
tenberg und 1722 von Christian Porsdorif in Leipzig herausgegeben (Faulmann). Im
Laufe des 18. Jahrhunderts hatten schließlich alle bedeutenderen Schriftgießer Deutsch¬
lands ihre Kurrentschriften. Jene des Leipzigers Breitkopf erwarb Pierre Simon Four¬
nier, um sie unter der Bezeichnung Cursive allemande in seinem Manuel anzuführen ;
er bemerkt hiezu, daß sie um 1695 in Nürnberg verwendet wurde.
Im 19. Jahrhundert verlief die Entwicklung der Kurrentschrift parallel mit jener
der übrigen westeuropäischen Schriften, um sich dem auch in der Kalligraphie vor¬
herrschenden Klassizismus unterzuordnen. Die Kalligraphen ebenso wie die subalter¬
nen Schreiber amtlicher und kommerzieller Schreibstuben schnitten die Spitzen ihrer
Federn noch spitzer zu, und diese Entwicklung erreichte ihren Höhepunkt mit der
Erfindung und industriellen Erzeugung der scharfen Stahlfeder, die eine unnatürliche
Haltung verlangte und die für diesen Zeitabschnitt so typische leblose, scharfe und
drahtige Zeichnung zur Folge hatte (Abb. 323). Eine so beschaffene und bis zu einem
gewissen Grade mit der zeitgenössischen englischen Lateinskript gekreuzte Kurrent¬
schrift wurde zur normalisierten deutschen Schulschrift, wie sie bis vor kurzem die
Schulkinder nicht nur in Deutschland, sondern überall dort, wo Deutsch Pflichtfach
war, fleißig üben mußten.
Die Schriftzeichnung beider Alphabete wurde durch den Schulunterricht wie auch
durch Druckrepliken stabilisiert, die in Gravur und Zeichnung so vollendet waren, daß
sie selbst wieder den Schreibern als Vorbild dienten. Um diese Entwicklung der Kur¬
rentschrift im Sinne des Klassizismus haben sich also die deutschen Schriftgießer nicht
wenig verdient gemacht, und auch Unger, der bahnbrechende Verfechter dieses Stils
im deutschen Schriftschaffen, hatte eine beispielhaft klassizistische Kurrentschrift ge¬
schaffen, die ebenso leicht und hell war wie seine Fraktur. In Beispielen aus noch
jüngerer Zeit nähert sich die Zeichnung der Kurrentschrift dem Schnitt von Didots
Lateinskript anglaise, um noch mehr Farbe und damit zugleich alle Merkmale und
vielleicht auch Vorzüge einer Schrift des gotischen Typus einzubüßen. Wie die An¬
glaise, die wir im Kapitel über die Kursivschriften der Nachrenaissancezeit behandeln
wollen, ist auch die Kurrentdruckschrift des 19. Jahrhunderts eine immer vollendetere
Nachahmung des Duktus der scharfen Stahlfeder, deren sich der zeitgenössische Kalli¬
graph bediente, die Lettern werden mit steigender Präzision im Anknüpfen der Ver¬
bindungsstriche benachbarter Buchstaben graviert und gegossen, und es wird somit
alles getan, um die Tatsache zu verschleiern, daß es sich um eine Druckschrift handelt.
Und in dieser Gestalt wurde die Kurrentdruckschrift zur deutschen Standardschreib¬
schrift des 19. Jahrhunderts, um auch in das unsere überzugehen. So können wir ihr
auch heute in den Probendrucken und im Schriftmaterial aller deutschen Druckereien
begegnen. In den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen haben die deutschen
Schriftgießereien eine beachtliche Reihe moderner Kurrentschriften für den verschie¬
densten Bedarf im Akzidenzsatz geschaffen. Da es sich jedoch meist um solche Schriften
handelte, die sich im Konkurrenzkampf der kommerziellen und Industriewerbung
bewähren sollten, zeichnen sie sich in der Regel nur durch den effektvollen Einfall auf
Kosten des notwendigen Minimums an Werten einer Schreib- und Druckschrift aus.
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