KURSIVSCHRIFTEN DES GOTISCHEN TYPUS
oder gekrümmt ist. Die Majuskeln werden in der geläufigen Korrespondenz verhält¬
nismäßig einfach gestaltet, wenngleich professionelle Kalligraphen zahlreiche Bei¬
spiele sehr komplizierter Modifikationen liefern. Obwohl diese Autoren in ihrem Re¬
pertoire eine Mehrzahl wenn auch nur geringfügig geneigter Kurrentvarianten zeigen,
überwog in der Praxis des 16. Jahrhunderts anscheinend die senkrecht geschriebene.
Einen senkrechten Duktus hat auch die erste Kurrentdruckschrift, die schon in der
zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts im deutschen Buchdruck in Erscheinung trat.
Es war dies ein zu seiner und für lange Zeit vereinzelter Versuch, diese Schrift in der
Typographie zur Geltung zu bringen, und diese Ausnahme bildete die Schrift eines
Teils des Textes der deutschen Ausgabe eines Buches über die Architektur von Hans
Bluom - Ein Kunstrich Buch von allerley Antiquiteten, das Christoph Froschauer
1567 in Zürich druckte. In der Zeichnung ist sie eine Kurrentschrift von frühem,
sehr formalem Duktus, der sich bei den Versalien und im kleinen Alphabet stark der
deutschen Kanzleikursiv nähert. Dessenungeachtet tritt in der Form gewisser Buch¬
staben, vor allem des g, ziemlich deutlich die Zugehörigkeit zur Kurrentfamilie zu¬
tage. Manchmal wird in dieser Schrift auch der Einfluß von Grandjons Druckskript
Civilité festgestellt (Johnson), aber aus dem Vergleich beider Schriften ergibt sich
vielmehr, daß Froschauer beim Schneiden seiner Schrift durchaus unabhängig vorging.
Auch die Kurrentschrift unterlag im Laufe von vier Jahrhunderten verschiedentlich
Stilschwankungen, und auf diese Wandlungen hatten natürlich die zeitgenössischen
Tendenzen und nicht nur die deutsche Kalligraphie einen entscheidenden Einfluß.
Während Arnold Möller 1645 noch eine ziemlich breit zugeschnittene Feder ver¬
wendete, macht sich der Einfluß der neuen Schreibtechnik und ihres Werkzeugs, der
weichen, spitz zugeschnittenen Feder, ebenso wie der Reproduktionstechnik des Kupfer¬
stichs, schon zu dieser Zeit im dünnen Duktus der Kurrentschriften anderer Kalli¬
graphiemusterbücher und privater Briefschaften des 17. Jahrhunderts stark bemerk¬
bar. Vom Beginn des 18. Jahrhunderts an begegnen wir kaum noch einer anderen als
dieser dünnen Kurrentschrift, und solcher Art ist auch die stark geneigte des Michael
Baurenfeind, der ja, wie wir wissen, bei der Kanzleischrift für die Rückkehr zur Re¬
naissancetradition eintrat. In der eigentlichen Zeichnung beider Alphabete der Kur¬
rentschrift des 17. und 18. Jahrhunderts (Abb. 322) gab es jedoch keine bedeutsameren
Wandlungen mehr. Das kleine Alphabet ist bereits völlig stabilisiert, und es bleiben
somit nur die kursiven Modifikationen einzelner Buchstaben, vor allem des e, das weit¬
gehend dem n angeglichen wird und sich von diesem nur durch den kürzeren zweiten
Schaft oder ein stärkeres Aneinanderrücken beider fast gleich langen Schäfte unter¬
scheiden soll. Die Buchstaben g, h sind immer öfter in Schleifenform vertreten, und
die Bäuche des a, 0, q bleiben oben in der Regel offen. Eine weniger einheitliche Zeich¬
nung haben jene Majuskeln, die mit kühnen Kurven versehen sind; dem Zeitgeist
entsprechend werden diese insbesondere von den Berufskalligraphen verschwenderisch
angewandt.
Es ist möglich, daß die Kurrentdruckschriften nach der Entstehung der Froschauer-
schen Druckskript nur noch für den Satz ephemerer Drucksachen verwendet wurden,
denen man keinen besonderen Wert beimaß, um sie für die Zukunft erhalten zu wollen.
Denn wie ließe sich sonst die Lücke von hundert Jahren erklären, die das erste bekannte
Beispiel einer Druckskript dieser Gattung von der nächsten trennt, nämlich von der
Frankfurter Kurrentdruckschrift, die in einer undatierten Mustersammlung des Schrift-
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322. Kurrentschrift, 1J.-18. Jahrhundert.
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