DIE VORGESCHICHTE DER LATEINSCHRIFT
dieser Epoche der Fall war, nicht über eine verhältnismäßig stabilisierte Produktion
der bloßen Schriftkonstruktion hinaus. Die Zeichen wurden mit unverändert gleich¬
artigem Strich gemeißelt oder geschrieben, ohne ein Streben nach weiterer graphi¬
scher Gestaltung zu verraten. Doch was die Konstruktion betrifft, nahm die phöni-
kische Schrift schon in ihren frühesten Beispielen jenen abstrakten, gegenstandslosen
Charakter an, der die zeichnerischen Elemente auf das unerläßliche Minimum redu¬
ziert und in der weiteren Entwicklung des europäischen Zweigs am Stammbaum der
phönikischen Schrift typisch bleiben sollte. In der älteren Periode, d. h. im 12.-10.
Jahrhundert v. Chr., war das phönikische Alphabet (Abb. 12, 14) natürlich noch nicht
ganz stabilisiert. Einige Zeichen traten zu dieser Zeit in verschiedener Form auf, z. B.
die Buchstaben alef und gimel auf unserer Abbildung, und die Schriftkonstruktion der
Zeichen sollte in der Mehrzahl der Fälle noch formal vervollkommnet werden. Zu
stabiler und fast schon unveränderlicher Gestalt gedieh die Schriftzeichnung des phö¬
nikischen Alphabets erst im 9. Jahrhundert v. Chr. (Abb. 15), und in dieser Form
wurde die phönikische Schrift zum Ausgangspunkt der weiteren Entwicklung zur La¬
teinschrift. Bevor wir sie jedoch weiter verfolgen, werden wir nochmals zur Proble¬
matik der Vorentwicklung zurückkehren müssen, deren Gipfel zweifellos die phöni¬
kische Schrift darstellt.
Denkmäler einer altsemitischen Schrift dieses Typus wurden in neuerer Zeit auch
außerhalb des phönikischen Gebiets und aus noch fernerer Vergangenheit gefunden.
Damit verstärkten sich schon zuvor ausgesprochene Zweifel darüber, daß den Phö-
nikern das ausschließliche Verdienst der Erfindung des Lautalphabets gebühre. So
12. Phönikische Inschrift, Byblos, um das 12.-10. Jahrhundert v. Chr.
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DIE VORGESCHICHTE DER LATEINSCHRIFT
wurde es notwendig, den traditionellen Namen dieser Schrift durch eine breitere Be¬
zeichnung zu ersetzen. Besser würde beispielsweise der Terminus kanaanäische Schrift
entsprechen, denn so wären neben der phönikischen auch die althebräische und die
Schriften verwandter Sprachgruppen - die ammonitische, moabitische u. a. - sowie
jene der frühen vorhebräischen und vorphönikischen oder der frühkanaanäischen Dia¬
lekte Palästinas und Syriens erfaßt (Diringer). Zum geläufigen Fachausdruck wurde
jedoch in der einschlägigen Literatur die Bezeichnung westsemitische (Driver, Gelb)
oder NORDSEMITISCHE SCHRIFT (Diringer, Jensen). Beide Termine sind Ab¬
kürzungen der genaueren, aber ein wenig schwerfälligen Bezeichnung nordwestsemi¬
tische Schrift, unter der nicht nur die kanaanitischen, sondern auch die aramäischen
Varianten des altsemitischen Konsonantenalphabets zusammengefaßt werden. Die
Bezeichnung protosemitische Schrift hat sich sodann für die ältesten Entwicklungsformen
der semitischen Schrift eingelebt, für jenes Stadium, das ihrer Teilung in eine nord-
und eine südsemitische Linie voranging. Daraus geht hervor, daß wir die Bezeichnung
phönikische Schrift in Hinkunft ausschließlich auf die phönikischen Urschriften be¬
ziehen werden.
Die phönikische Version des nordsemitischen Alphabets stellt allerdings den Schei¬
telpunkt der Entwicklung der altsemitischen Schriften vor; auch ist sie jene Form, die
zum Ausgangspunkt der Schriftentwicklung in Europa und andernorts wurde. Die
Frage nach ihrer Herkunft und ihrem Verhältnis zu den übrigen altsemitischen Schrif¬
ten und zu den anderen gleichzeitigen und älteren Schriften dieser Gegend ist mit
außerordentlich komplizierten Teilproblemen verbunden und bisher noch nicht ein¬
deutig beantwortet. In letzter Zeit sind sehr verlockende Hypothesen aufgetaucht, die
diese offenen Fragen überaus einfach und mit großer Wahrscheinlichkeit einer Lösung
zuführen, aber sie haben weder allgemeine Anerkennung, noch die Unterstützung
aller hervorragenden Autoritäten von Weltrang gefunden. Darum bleibt nichts an¬
deres übrig, als hier alle wichtigen Theorien zu erwähnen, die durch verschiedene
Rekonstruktionen der Vorentwicklung das Problem zu lösen bemüht sind. An erster
Stelle sei die alte Ansicht genannt, daß das phönikische Alphabet unmittelbar an die
ägyptische Schrift anknüpfe. Dafür sind einige Beweise vorhanden, vor allem die
antike, von Eusebius festgehaltene Überlieferung, der zufolge die phönikischen Er¬
finder des Alphabets die Schrift ursprünglich in Ägypten kennengelernt hätten. Dieser
Behauptung begegnen wir auch bei Plato, Diodorus von Sizilien, Plutarch, Aulus
Gallius und bei Tacitus, woraus ersichtlich ist, wie allgemein diese Ansicht im Alter¬
tum vertreten wurde (Taylor). Ein anderer Umstand, der für diese traditionelle Er¬
klärung spricht, ist das Prinzip des Konsonantenalphabets, das sowohl dem semitischen
Alphabet als auch den altägyptischen phonetischen Zeichen zugrunde liegt. Diese und
andere Zeugnisse zugunsten einer ägyptischen Herkunft der phönikischen Schrift waren
jedoch durch die formale Verwandtschaft beider Schriften nicht leicht nachzuweisen.
Denn in dieser Hinsicht ist sicher nichts so weit voneinander entfernt wie die pikto-
graphischen ägyptischen Hieroglyphen und die abstrakten phönikischen Buchstaben.
Es schien also, daß diese traditionelle Darlegung wegen Mangels an konkreten Be¬
weisen kaum standhalten würde, als sie in der Mitte des vorigen Jahrhunderts uner¬
wartet aus Frankreich Beihilfe bekam. Seit den Tagen Jean François Champollions
(1790-1832), des berühmten Entzifferers einer in Hieroglyphen und in demotischer
und griechischer Schrift gemeißelten Inschrift auf dem sog. Stein von Rosette aus dem
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