KURSIVSCHRIFTEN DES GOTISCHEN TYPUS
gebrochene Canntzleyschrifft trägt (Abb. 316), oder auch einen fast buchmäßigen
Duktus, wie ihn Ein andere gelegte Cantzley desselben Kalligraphen aus dem gleichen
Jahre zeigt. Bei der Beurteilung der deutschen Kanzleischrift des 16. Jahrhunderts
sind wir jedoch nicht nur auf die erhaltenen Schreibbücher oder Urkunden angewie¬
sen. In besonders reiner Standardform steht sie uns auch in zwei Druckimitationen zur
Verfügung, den ältesten deutschen Druckskripten des gotischen Typus überhaupt.
Eine dieser Schriften besaß Hans Kilian, Drucker in Neuburg, der sie für das 1545
gedruckte Friedschirmbuch des Marsilius von Padua und gelegentlich für den Satz
anderer Bücher verwendete. Im Jahre 1557 druckte Kilian mit dieser Skript sogar
den ganzen Text der deutschen Ausgabe der Geschichte Venedigs von Donato Gia¬
notti. Aus dem Satz einer Seite der Einleitung des Friedschirmbuches (Abb. 317) kann
geschlossen werden, daß es sich hiebei um eine Kanzleischrift etwa der Gattung
‘gebrochene auf gelegte Art’ handelt, obwohl sie auf den ersten Blick wie eine sen¬
krechte Schrift wirkt. Trotz einiger Frakturmerkmale, die besonders in den Versalien
hervortreten, ist sie eine typische Druckskript, die sehr getreu und geschmackvoll eine
handschriftliche Form nachahmt. Der verhältnismäßig ruhige Satz wird nicht gestört,
trotzdem einige Buchstaben wie das p,fs im Gegensatz zur vorherrschenden Schaft¬
richtung der übrigen Minuskeln senkrecht verlaufen, und auch die im Gegensinn nach
links gebogenen Strichverlängerungen und Bögen des g, h, m, n treten nicht zu stark
hervor. Zusammenfassend kann diese Skript als eines der besten Beispiele einer guten
Schrift dieser Gattung bewertet werden, einer Schrift mit großem, gut lesbarem Bild
und ausgeglichener Zeichnung und Farbe.
Dieser und weitere Versuche einer breiteren Anwendung gotischer Skripten vom
Typus der Kanzleischrift konnten im deutschen Buchdruck, zumindest was den Buch¬
satz betrifft, keinen allzu durchdringenden Erfolg verzeichnen. Im übrigen sollte diese
Schrift nicht mehr aus den Musterbüchern der Schriftgießer bis zum Ausgang des
18. Jahrhunderts verschwinden. So führt im Jahre 1787 der Wiener Schriftgießer
J. T. Trattner neben anderen Skripten auch die Kanzleischrift an. Mit Hinblick auf
den späten Zeitpunkt nimmt es nicht wunder, daß diese Skript in Trattners Schnitt
bereits Spuren eines Einflusses der zeitgenössischen Lateinschriften Westeuropas verrät.
Inzwischen ging die handschriftliche Kanzleischrift in mehr oder weniger derselben
Renaissanceform ins 17. Jahrhundert ein und blieb etwa bis zum Ende des Dreißig¬
jährigen Krieges unverändert. Darum wiederholt beispielsweise Arnold Möller in
seiner Sammlung Schreibkunstspiegel, die er 1645 in Lübeck herausgab, im Grunde
nur die Muster seiner Vorgänger. Es scheint, daß die Kanzleischrift erst nach dem
westfälischen Frieden, dafür aber um so schneller, in den kalligraphischen Mustern
dem Einfluß der Reproduktionstechnik des Kupferstichs unterlag, daß sie leichter und
lebhafter wurde. Alsbald überwiegt eine leichte Schrägneigung des Duktus, und die
Majuskelzeichnung wächst durch die Anwendung kalligraphischer Schleifen in die
Breite und Höhe. Im kleinen Alphabet (Abb. 319) erkennt man den Einfluß der fran¬
zösischen lettre financière in Gestalt haarfeiner, sehr tief hinabgezogener Unterlängen
der Buchstaben p, q, s. Die Bäuche des a, g, q bleiben oben offen. Die Zeichnung des h
wird durch den unmittelbaren Übergang aus der oberen Schlinge in den unteren
Bogen vereinfacht. Eine interessante Form hat das p erhalten, dessen untere Verlän¬
gerung eigentlich die Fortsetzung einer Bauchschlinge vorstellt, die mit der des Buch¬
stabens X identisch ist.
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gì 8. Kanzleischrift, 16. Jahrhundert.
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