KURSIVSCHRIFTEN DES GOTISCHEN TYPUS
Schreib-Kunst von dem bedeutenden Nürnberger Kalligraphen Baurenfeind aus dem
Jahre 1716 usw. Die Fraktur war jedoch auch jenseits der Grenzen Deutschlands als
kalligraphische Form beliebt, sie wurde zu einer akklimatisierten Schrift der Nieder¬
lande, wo sie als fraktuer-letter alle hervorragenden Kalligraphen kennen, was wir hier
bereits festgestellt haben. Auch in England wurde die Fraktur heimisch, und zwar in
Gestalt der schon genannten Variante square letter, die wir in den englischen Kalli¬
graphiehandbüchern bis ins 18. Jahrhundert feststellen können.
Die Fraktur war jedoch zum Schreiben viel zu schwierig und konnte deshalb nur
selten zur Anwendung kommen. Den Zwecken der Amtskorrespondenz diente schon
in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts in den Schreibstuben eine zweite Urkunden¬
form der deutschen Renaissance, Cantzley oder KANZLEISCHRIFT genannt, die die
Fraktur fast zur Gänze aus den Briefschaften verdrängte, obwohl auch sie in ihrer
reinen Form nicht viel leichter zu schreiben war. Sowohl der Duktus dieser Kanzlei¬
skript, die sich aus der älteren deutschen gotischen Kursiv entwickelte, als auch ihr
Name sind sehr alten Ursprungs und kommen auch in den Schreibhandbüchern der
deutschen Kalligraphen aus der Mitte des 16. Jahrhunderts vor. Die Kanzleischrift
erwähnt auch Wolfgang Fugger in seinem Schreibmusterbüchlein von 1553 neben der
Textur, Rotunda und Fraktur, und er charakterisiert sie folgendermaßen: ‘Es ist
kein sonderliche vnderschied zwischen den Currenten vnnd denen so wir Cantzley
schriefften nennen, dann das etlich Buchstaben mit einer rauten (oder Quadraten)
geziert vnnd gebrochen werden.’ Schon daraus wird deutlich, daß es sich um eine der
Fraktur verwandte Schrift handelt, der manche Varianten auch stark ähneln. Bei der
Beschreibung der Fraktur behauptet Fugger auch, daß ‘Ein yeder so ein gute Cantz¬
ley schriefft schreiben kan, lernt gar leichtlich auch ein gute Fractur schriefft schreiben.
Dann es sind vil Buchstaben gemeß sein, es ist gar ein schlechte differentz zwischen
den zweyen gemelten schriefften, die Cantzley wirt kurtz vnnd gelegt, aber die Fractur
wirt lang vnnd aufrecht eben geschrieben, sie wirt auch mer mit der rauten oder
Quadrangel gezieret vnnd gebrochen...’
Das ist zwar keine ganz genaue und die Merkmale beider Schriften erschöpfende
Definition, dessenungeachtet aber ein interessanter Beleg für die Klassifizierung der
deutschen Skripten um die Mitte des 16. Jahrhunderts.
Die Kursive ‘Kanzleischrift’ selbst kam in einer ganzen Reihe von Schreibvarianten
vor, deren zeichnerische Abweichungen größtenteils nur ganz gering sind. Die deut¬
schen Kalligraphen des 16. Jahrhunderts, sei es Johann Neudörffer d. Ä. in seinen
Handbüchern aus den Jahren 1538, 1544 und 1549, der eben erwähnte Fugger oder
Caspar Neff mit seiner 1549 und neuerlich 1580 herausgegebenen Mustersammlung,
oder Stimmer (Kunstrych Fundamentbüchle, Zürich 1549), Johann Neudörffer d. J.
in Nürnberg 1558, Georg Peschel (Eine gute Ordnung und Kurtzer Unterricht der
fürnembsten gründe beide Deutscher und Lateinischer Schriften, Dresden 1571 ) u. a.,
unterschieden mehrere Gattungen der Kanzleischrift, die sie gemeine, gemeine auf
stehende Art, gelegte, runde auf stehende Art, rundgelegte, geschobene, gebogene,
gebogene auf gelegte Art, zurückgebogene, gebrochene, gebrochene auf gelegte Art,
gebrochene auf geschobene Art, hangende, gewundene auf stehende Art u. ä. nannten.
Hauptunterscheidungsmerkmal all dieser zahlreichen Modifikationen war die Form
und Stellung der Schaftachse des m, n, u, die in der Variante gemeine auf stehende
Art senkrecht und oben wie unten spitz, in der Variante runde oben gerundet, in der
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KANZLEISCHRIFT
Variante gebogene unten rund, in der Variante gelegte nach links und in der Va¬
riante hangende nach rechts geneigt war. Die Varianten gebrochene und gewundene,
d. h. mit gebogenen Schäften und scharfer Zeichnung der Rundbuchstaben, stehen
der Fraktur sehr nahe, und Schriften dieser Gattung werden manchmal auch als
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5/7. Friedschirmbuch. H. Kilian 1545. Detail.
Kanzlei-Fraktur bezeichnet, womit die enge Verwandtschaft beider Schrifttypen cha¬
rakterisiert ist. Die Majuskeln aller dieser zahlreichen Versionen der Kanzleischrift
sind übrigens zum größten Teil aus der Fraktur übernommen und entweder in der
Zeichnung vereinfacht oder im Sinne der zeitgenössischen Kalligraphie kompliziert
gestaltet.
Die grundlegende und in der Renaissance zweifellos überwiegende Form war die
gemeine Kanzleischrift auf stehende Art, das heißt mit senkrechten, scharf ansetzenden
Schäften. Im großen Alphabet einer solchen deutschen Kanzleikursiv des 16. Jahr¬
hunderts (Abb. 318) finden wir zwar außerordentlich zahlreiche Variationen einzelner
Buchstaben vor, aber im Prinzip entfernen sie sich dennoch nicht allzu weit von den
Frakturformen. Im Minuskelalphabet finden wir eine Reihe Buchstaben mit einer
Zeichnung, die gleichfalls der Fraktur oder den älteren gotischen Kursiven nahe steht.
Typisch sind die verhältnismäßig kurzen Verlängerungen über die mittlere Minuskel¬
höhe hinaus, die unter dem Einfluß der französischen Kalligraphie nur manchmal
bei den Buchstaben/, p, q, s tiefer unter die Fußlinie hinabgezogen sind, wobei die
Züge zugleich dünner werden. Charakteristisch auch der eingedrückte Kopf der Buch¬
staben a, g, q, ebenso jener der Endschäfte des m und n. Wo das Paar mm oder nn vor¬
kommt, wird nur der Endschaft des zweiten Buchstabens eingedrückt. Das r ist ent¬
weder in einer kursiven Variante der Minuskel-Buchform in Gestalt eines x oder öfter
in der verdoppelten Rundform vertreten. Das x unterscheidet sich durch den gesenkten
Bogen des zweiten Strichs, der unter die Fußlinie hinabreicht, und oft auch durch
einen geschlossenen Bauch rechts. Das Schluß-^ mit Schlinge wird auch mitten im
Wort verwendet. Das z pflegt in die mittlere Minuskelhöhe hineingezwängt zu sein,
aber manchmal ragt es über sie hinaus.
Im ganzen ist die Kanzleischrift des 16. Jahrhunderts eine sehr formale Schrift, die
mit großer Sorgfalt geschrieben wurde, selbst wenn sie einen kursiveren Charakter
hatte, wie z. B. in Neffs Beispiel aus dem Jahre 1549, das den Titel Die rund gelegte
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