KURSIVSCHRIFTEN DES GOTISCHEN TYPUS
gehend richtig ist, denn es gibt in der Tat keine andere, die die Deutschen mit solcher
Berechtigung als die ihrige bezeichnen könnten. Und doch hatte auch diese deutsche
Schrift mit Hinblick auf einige spezifische kursive Elemente Vorgänger, beispielsweise
in Gestalt der böhmischen Druckbastarda, und noch früher, in der zweiten Hälfte
des 14. Jahrhunderts, in der Schrift der Urkunden der königlichen Kanzlei in Prag
(Bogeng). Mit anderen Merkmalen - der schmalen Zeichnung, der überwiegenden
Vertikalität und den quadratischen Füßchen - ist sie jedoch der Textur verpflichtet,
die bekanntlich französischer Herkunft war. Das Deutsche der Fraktur hoben jedoch
schon die Zeugen ihrer Entstehung und ihrer ersten Entwicklungsphasen hervor. So
stellt z. B. der hier bereits wiederholt zitierte Kalligraph Wolfgang Fugger die Fraktur
allen deutschen Schriften voran und lehnt die Verwendung italienischer Renaissance¬
formen für deutschsprachige Texte ab, denn ‘Es will nit schön sehen, so man die
Teutschen Sprach mit Lateinischen Buchstaben schreyben will’. Zuweilen begegnen
wir der Behauptung, der Autor der Frakturzeichnung sei der hervorragende und viel¬
seitige Maler der deutschen Renaissance Albrecht Dürer gewesen. Eine solche Ver¬
einfachung des Problems der Anfänge der Fraktur entspricht jedoch nicht den Tat¬
sachen, obwohl als sicher gelten muß, daß Dürer sich in unmittelbarer Nähe der
Geburt dieser neuen Buchschrift befand. Doch das deutet noch nicht auf Dürers
Autorschaft der Frakturzeichnung hin, und es will im Gegenteil scheinen, daß für ihre
Entwicklung und schnelle Verbreitung wirtschaftliche Gründe entscheidender waren
als ästhetische.
Die Schwabacher als Druckschrift hatte zwar im Rahmen der bescheidenen Möglich¬
keiten einer Kursivschrift des gotischen Typus verschiedene gute Eigenschaften, aber
in den Augen der zeitgenössischen Drucker hatte sie auch einen schwerwiegenden
Nachteil: sie war nicht genug sparsam im Verhältnis zur Ausdehnung der bedruckten
Fläche, was auf das sehr große und ziemlich breite Schriftbild zurückzuführen ist.
Gegenüber der Schwabacher und insbesondere der Wittenbergischen Bastarda ist die
Fraktur in erster Linie durch die Tatsache charakterisiert, daß sie eine schmale und
daher sparsame, in der Farbe gewöhnlich viel hellere Schrift darstellt. Zu diesen ty¬
pischen Kennzeichen gesellt sich ein weiteres : die Schärfe der Zeichnung, für die die
oben und unten verengte und mit scharfen Spitzen versehene o-Minuskel die charak¬
teristischste ist. Die Oberlängen der Buchstaben b, h, к, l, die in der Schwabacher
entweder stumpf oder manchmal auch mit einer Schlinge abgeschlossen werden, laufen
bei der Fraktur in einen schmalen Grat aus, der sich im Laufe der weiteren Entwick¬
lung krümmt und gabelt. Grate treten auch bei den übrigen Minuskellettern in Er¬
scheinung, z. B. am Kopf der Buchstaben a, c, e, g. Die scharfen Bastardenschäfte des
/ und des langen j sind natürlich auch für die Fraktur typisch. Der stumpfe Schwa¬
bacher Scheitel der ¿-Letter ist gleichfalls länger und schärfer geworden. Ebenso sind
die über den Rand des Systems hinausragenden Schäfte länger, und damit hat sich
das Satzbild aufgehellt. Ein weiteres Kennzeichen der Fraktur in ihrer Gesamtent¬
wicklung ist der Abschluß der Minuskelschäfte durch quadratische, schräggestellte
Gebilde, die ihre Analogie in den Füßchen der hochentwickelten Textur finden. Bei
gewissen Frakturversalien kommen von Anfang an kalligraphische Kurven vor, die in
der weiteren Entwicklung traditionell beibehalten werden : die uns bereits bekannten
und aus den böhmischen Kursivschriften der Gotik übernommenen Elefantenrüssel.
Der kalligraphische Duktus ist übrigens Hauptmerkmal der Frakturversalien, deren
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FRAKTUR
Zeichnung und Konstruktion im wesentlichen von der Schwabacher Ausgang nahm.
Die Elefantenrüssel und die kalligraphische Behandlung ausgenommen, unterscheiden
sich die Lettern A, B, D, G, H, J, N, S und X im ganzen, abgesehen von einigen
Ausnahmen im Laufe der Entwicklung, keineswegs von den Schwabacher Versalien.
Vor allem die spiralenförmige Schwabacher Versalienform S hat sich praktisch ohne
Veränderung bis auf unsere Tage erhalten. Eine neue Form erhielten die nur gering¬
fügig differenzierten Lettern С und E, und das F, L, M und Z machte einige Meta¬
morphosen bis zur heutigen Gestalt durch. Die mit Elefantenrüsseln versehenen kalligra¬
phischen Versalien bilden zusammen mit den schmalen und scharfen Kleinbuchstaben
im Satz der Fraktur ein unruhiges Ganzes, obwohl beiden Alphabeten zu diesem
Zeitpunkt bereits eine einheitliche Konzeption zugrunde liegt. Als Druckschrift ist die
Fraktur keinesfalls ein Fortschritt gegenüber der Schwabacher. Doch ihre Sparsam¬
keit und zweifellos auch das sich wandelnde ästhetische Fühlen der Drucker und Leser
in der Ubergangzeit von der Renaissance zum Barock sicherten der Fraktur nach der
anfangs recht kühlen Aufnahme den Sieg über eine Schrift, die vom typographischen
Gesichtspunkt aus zweifellos wertvoller war.
Am eingehendsten wurde die Entstehung und Entwicklung der Fraktur begreifli¬
cherweise von deutschen Forschern untersucht, die das Problem jedoch bis heute nicht
eindeutig gelöst haben. Denn es stehen hier immer noch mehrere Hypothesen im
Widerstreit, die das Zustandekommen der Fraktur auf verschiedene Quellen zurück¬
führen, entweder auf die vorhergehenden Handschriften- und Druckbastarden oder
auf die Schriften der kaiserlichen Kanzlei oder auch auf die Schreibtätigkeit einiger
Kalligraphen und Künstler, darunter vor allem Albrecht Dürers, dessen graphisches
Wirken hier bereits erwähnt worden ist. Unter den Kalligraphen wird in diesem Zu¬
sammenhang manchmal auch Leonhard Wagner genannt, in dessen Sammlung Proba
centum scripturarum, die vor 1522 in Augsburg erschien, sich tatsächlich Schriften
finden, die stark an die Druckfraktur erinnern. Allerdings kamen zu dieser Zeit -
schon seit 1513 - gerade im Augsburger Buchdruck mehrere Frakturschriften vor, und
man kann ihren Ursprung daher nicht mit dem Einfluß der später erschienenen
Wagnerschen Sammlung erklären, es sei denn mit seiner vorherigen kalligraphischen
Tätigkeit, für die jedoch keine genug stichhaltigen historischen Beweise vorhegen. Viel
allgemeiner wird die Vermutung akzeptiert, daß der Autor der charakteristischen
Frakturzeichnung der berühmte Kalligraph Johann Neudörffer d. Ä. aus Nürnberg
gewesen sei, wenngleich sein ältestes im Druck erschienenes Schreibhandbuch An-
weysung einer gemeinen hanndschrift etc. erst aus dem Jahre 1538 stammt. Über Neu-
dörffers vorherige Schreibtätigkeit ist man jedoch genügend unterrichtet, weshalb sein
Einfluß zumindest auf die Zeichnung der Hochform der Fraktur des 16. Jahrhunderts
heute allgemein für möglich gehalten wird. Die Entstehung der ersten Fraktur über¬
haupt hat den entscheidenden Impuls zweifellos durch die bibliophile Vorliebe Kaiser
Maximilians I. erhalten, der für seinen persönlichen Gebrauch im Jahre 1508 bei dem
Augsburger Drucker Schönsperger eine Schrift nach einer Vorlage bestellte, die mit
großer Wahrscheinlichkeit von seinem Sekretär Vinzenz Rockner entworfen war. Und
in ebenjener Vorlage läßt sich leicht die Verwandtschaft der Fraktur mit der gleich¬
zeitigen diplomatischen Schrift der kaiserlichen Kanzlei feststellen; ihr charakteristi¬
scher Duktus ist auf die diplomatische Schrift der in der Prager königlichen Kanzlei
um die Mitte des 14. Jahrhunderts geschriebenen Urkunden Karls IV. zurückzuführen
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