DIE VORGESCHICHTE DER LATEINSCHRIFT
Leibovitch) bemühten sich um eine Lösung, die jedoch nicht immer einen Schritt
vorwärts bedeutete. Noch 1931 waren nicht mehr als zwölf Zeichen mit Gewißheit
identifiziert (M. Sprengling). Erst hach langjährigen Bemühungen trat W. F. Albright
1948 mit der Entzifferung von neunzehn der möglichen 25-27 Zeichen hervor, und
zugleich mit der Feststellung, daß es sich bei der protosinaitischen Schrift um ein
kanaanitisches Alphabet vom Beginn des 15. Jahrhunderts handle, das für einen ka-
naanitischen Vulgärdialekt geschaffen worden sei. Obwohl W. F. Albright gleichzeitig
kategorisch auf die Notwendigkeit weiterer Funde hinwies, um bestimmtere Rück¬
schlüsse auf die Bedeutung der protosinaitischen Schrift in der Entwicklung unseres
Alphabets ziehen zu können, mehren sich die Stimmen jener, die auch in dieser teil¬
weisen Entzifferung einen Beweis dafür erblicken, daß sie das bisher vermißte Ent¬
wicklungsglied zwischen dem nordsemitischen Alphabet und der ägyptischen Schrift
ist. Es wird nützlich sein, auf dieses Problem noch zurückzukommen.
Ein nicht geringeres Interesse der Forscher auf dem Gebiet der ältesten Schrift¬
geschichte weckte eine weitere Schrift dieses landschaftlichen Bereichs, die sog. pseudo-
hieroglyphische Schrift von Byblos. Anders als die protosinaitische läßt sie in graphischer
Hinsicht einen gewissen, wenn auch weniger stark ausgeprägten Zusammenhang so¬
wohl mit den ägyptischen Hieroglyphen als auch mit der phönikischen Alphabetschrift
erkennen. Sie kommt auf Inschriften der ersten Hälfte des 2. Jahrtausends v. Chr. vor,
die der französische Archäologe Maurice Dunand während der von ihm geleiteten
Grabungen im phönikischen Byblos entdeckte und 1929-1935 publizierte. Diese In¬
schriften enthalten etwa 140 verschiedene Zeichen, von denen ein Großteil offensicht¬
lich piktographischer Art ist. Das läßt auch das hier reproduzierte Beispiel erkennen
(Abb. 11); es zeigt einige von einer Aufnahme der Inschrift auf der Dunand-Stele,
vermutlich der ältesten dieser Inschriften, in die Zeichnung übertragene Charaktere.
Manche erinnern tatsächlich an die Konstruktion gewisser Buchstaben des phöni¬
kischen Alphabets, während andere sogar einigen Buchstaben des frühgriechischen
und lateinischen Alphabets ähneln. Nicht geringer wäre jedoch die Zahl graphischer
Analogien, die man in anderen Schriften dieser Epoche finden könnte, z. B. in den
kretischen Linearschriften und in der kyprischen Schrift. Aus der beträchtlichen An¬
zahl verschiedener Zeichen der pseudohieroglyphischen Schrift von Byblos könnte man
schließen, daß es sich um eine Silbenschrift handelt, und eine solche Ansicht wurde
von einigen Forschern lange vertreten. E. Dhorme bewies jedoch zwischen 1946 und
1948 durch die Entzifferung der beiden wichtigsten dieser Inschriften, daß deren
Schriftsystem bereits eine Art Übergangsform zur alphabetischen Schrift darstellt,
obwohl manche Laute bis zu sieben zeichnerisch völlig verschiedene Varianten der
entsprechenden Zeichen aufweisen. Dhormes Lösung des Problems erklärt nicht nur
die Vielzahl der Zeichen, sondern auch die Art der Sprache dieser Texte, ein archai¬
sches Phönikisch. Damit ist allerdings die Ansicht B. Hroznÿs widerlegt. Hroznÿ hatte
im Anhang zu seiner Ältesten Geschichte Vorderasiens und Indiens aus dem Jahre
1943 erklärt, die pseudohieroglyphischen Inschriften aus Byblos seien die aus der End¬
phase des 3. Jahrtausends stammenden ältesten Dokumente der Herrschaft indoger¬
manischer Hethiter über Syrien und ihre Schrift hänge sowohl mit den hethitischen
Hieroglyphen als auch mit der kretischen und protoindischen Schrift zusammen. Aus
der bloßen äußeren graphischen Verwandtschaft verschiedener Schriften kann also
nicht immer auf deren tatsächliche wechselseitige Abhängigkeit geschlossen werden.
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DIE VORGESCHICHTE DER LATEINSCHRIFT
Die Ansichten über das Verhältnis der Pseudohieroglyphen von Byblos zur phöni¬
kischen Schrift werden wir später in gebührendem Zusammenhang erwähnen.
Den in der Schriftentwicklung dieser Epoche erreichten Höhepunkt stellt allerdings
die Schrift der Phöniker dar, eines kleinen semitischen Volkes, das den schmalen
Küstenstreifen unter dem Libanon vermutlich schon am Ausgang des 3. Jahrtausends
besiedelt hatte. Man weiß nicht von wo es kam; nach einer unverbürgten Überlie¬
ferung stammte es vielleicht aus dem Randgebiet der arabischen Wüste am Ufer des
Roten Meeres. Der Nachrichten über die Geschichte der Phöniker gibt es - im Ver¬
hältnis zu ihrer Bedeutung - nicht gerade viele und meist nur indirekte. Schon der
Name, mit dem wir dieses Volk bezeichnen, ist nicht sein eigener, sondern ihm von
den Griechen verliehen worden. Sein ursprünglicher Name lautete - wie aus akka-
dischen Texten des 2. Jahrtausends v. Chr. hervorgeht - Kinachnu, was dasselbe
ist wie der biblische Name Kannaniter, und es war von kinachchu, d. h. Purpur, abge¬
leitet (Segert). So bezeichneten sich die Phöniker selbst in Nordafrika, und noch der
hl. Augustinus nennt sie Chananaei. In ihrer Heimat unter dem Libanon auf die
unfruchtbare Felsküste angewiesen, nutzten sie ihre angeborene Begabung von See¬
fahrern und Händlern, um sich im ganzen Mittelmeerbereich dem Warenaustausch
zu widmen und lange Seereisen auch jenseits der Meerenge von Gibraltar zu unter¬
nehmen. Sie gründeten Handelsniederlassungen, die sich mit der Zeit zu bedeutenden,
vom Mutterland unabhängigen Reichen entwickelten wie das punische Karthago.
Die PHÖNIKISCHE SCHRIFT zeigt schon ein fast vollständiges phonetisches Al¬
phabet aus 22 einfachen Zeichen in stabiler Reihenfolge, und diese ging dann auf die
aus dem phönikischen entstandenen Alphabete über. Aus den Zeichen, deren jedes
einzelne mit seiner einfachen geometrischen Zeichnung einen Sprachlaut vorstellt,
wurden Buchstaben. Das wenige, was der von rechts nach links geschriebenen phöni¬
kischen Schrift noch zur Vollkommenheit fehlt, ist der bezeichnende und bedeutsame
Umstand, daß sie ausschließlich Konsonantenzeichen enthält und jedes Bedürfnis
eines graphischen Ausdrucks der Vokale vermissen läßt. Was die Zeit der Entstehung
der phönikischen Schrift betrifft, sind die älteren Inschriftenfunde ins 10.-9. Jahr¬
hundert v. Chr. einzuordnen. Als äußerste Grenze muß das 14. Jahrhundert v. Chr.
gelten, in dem die kleinen syrischen Herrscher nicht nur mit ihren ägyptischen Pro¬
tektoren, sondern auch untereinander mit Hilfe der fremden babylonischen Keilschrift
und in babylonischer Sprache Briefwechsel führten, was ihnen sicher nicht leicht ge¬
fallen sein mag. Sie hätten sich wahrscheinlich anders verhalten, wenn das einfache
semitische phonetische Alphabet damals schon verbreitet gewesen wäre. Die Mehrzahl
dieser Dokumente stammt aus der damaligen Stadt Gebal an der Stelle des heutigen
Dörfchens nördlich von Beirut, von wo die alten Griechen, die diese Stadt Byblos
nannten, den Großteil des benötigten ägyptischen Papyrus einführten. Daher auch
die griechische Bezeichnung ‘byblos’ für Buch, die sich in den modernen Sprachen
in den Worten Bibel, Bibliothek, bibliophil usw. erhalten hat. Ebenjenes Byblos ist der
Fundort weiterer bedeutsamer Denkmäler der phönikischen Schrift. Sie wurden ent¬
deckt, als die französischen Mandatsherren Syriens dort nach dem ersten Weltkrieg
archäologische Grabungen in die Wege leiteten.
Vom graphischen Aspekt her und gemessen mit ästhetischen Maßstäben, die wir
bisher vielleicht nur bei den ägyptischen Schriften anlegen durften, gedieh das phöni-
kische Schriftschaffen, wie dies übrigens bei der überwiegenden Mehrzahl der Schriften
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