KURSIVSCHRIFTEN DES GOTISCHEN TYPUS
viel verwandter, während sie in entfernteren Gegenden eigenartigere heimische For¬
men hervor brachte. Die größte Sorgfalt widmete man schriftlichen Dokumenten na¬
türlich in den Hofkanzleien, wo sich jedoch das ganze 13. Jahrhundert hindurch noch
Spuren des karohngischen und vorkarolingischen Schreibstils in der Kursiv bemerkbar
machen, Spuren einer Tradition, die zu gleicher Zeit auch in der französischen und
böhmischen königlichen Kanzlei zu Ende ging. Auch in der deutschen kaiserlichen
Kanzlei schrieb man ständig die diplomatische Minuskel, die sich parallel mit der
Buchminuskel gotisierte. Trotzdem entwickelte sich schon unter Friedrich II. (1212-
1250), der einen Großteil seiner Regierungszeit in Italien verbrachte und übrigens
durch seine Erziehung mehr Italiener als Deutscher war, um die Mitte des 13. Jahr¬
hunderts in den geläufiger geschriebenen Registra der kaiserlichen Kanzlei eine inte¬
ressante Modifikation der gotischen Kursiv (Tafel CXI), deren charakteristischer
Duktus in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts auch anderweitig in Mitteldeutschland,
z. B. in den sächsischen Urkunden, nachgeahmt wurde. Diese frühe mitteldeutsche go¬
tische Kursiv des 13. Jahrhunderts zeigt in ihrem Alphabet (Abb. 293) anfangs noch
die Buchminuskelform des a, e, aber das Kursive ihres Duktus kommt im übrigen
nicht nur in den üblichen Schlingen zum Ausdruck, sondern vor allem in den kühnen
Schleifen der Schlußzüge des g, h, m, n, s. Besonders die so beschaffene Form des
runden s ist kennzeichnend für diese Kursiv.
Die Kursiv der Urkunden untergeordneter Verwaltungskanzleien wies in Deutsch¬
land auch im 14. Jahrhundert den geläufigen Duktus der kursiven Modifikationen
der gotischen Minuskel auf, und erst im 15. Jahrhundert beginnt sich darin etwas
deutlicher ein lokaler deutscher Charakter abzuzeichnen. Zur Enstehung jener Kur¬
sivschriften, die als deutsche Nationalschriften gelten, kam es erst am Ausgang des
Jahrhunderts, in der Übergangszeit zur Renaissance. Inzwischen bildete sich jedoch
aus verschiedenen lokalen Varianten der deutschen gotischen Kursiv seit Beginn des
15. Jahrhunderts eine ganze Reihe von Buchschriften für Texte in der nationalen
Sprache heraus: die deutschen Bastarden. Wenden wir uns also zunächst ihnen zu,
bevor wir uns mit der Übersicht der jüngeren deutschen Urkundenschriften und ge¬
läufigen Skripten befassen.
Die moderne deutsche Paläographie hat auf Grund einer eingehenden Analyse fest¬
gestellt, daß die deutschen Handschrifienbastarden in mehrere regionale Gruppen eingeteilt
werden können. Bei dieser Klassifizierung wurde jedoch nicht so sehr auf die graphi¬
schen wie vielmehr auf innere Abweichungen der Schreibweise Rücksicht genommen,
auf Abweichungen in der Art der Verwendung und Form der Abkürzungen, auf
orthographische und vielleicht auch sprachliche. Übrigens ist diese Klassifizierung
auch vom paläographischen Gesichtspunkt aus nicht immer verläßlich, denn bei den
Bastarden, die von weltlichen, den Ort ihres Wirkens oft wechselnden Berufsschreibern
geschrieben wurden, ist die Feststellung der Herkunft und des Lokalcharakters der
Handschrift weit schwieriger als bei den formalen Buchschriften, die gewöhnlich von
fest ansässigen Schreibern der Klosterskriptorien geschrieben wurden. Kirchner warnt
darum auch in seinem grundlegenden Werk Die gotischen Schriftarten vor einer allzu
schematischen Anwendung der regionalen Klassifizierung, die auch uns nicht viel
helfen kann, denn beim Vergleich der in diesem Werk reproduzierten Beispiele deut¬
scher Bastarden können wir nur kleine Abweichungen des Duktus und noch gering¬
fügigere, wenn überhaupt irgendwelche der Schriftzeichnung feststellen. So zeigt z. B.
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233. Mitteldeutsche gotische Kursiv, 13. Jahrhundert.
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