DIE VORGESCHICHTE DER LATEINSCHRIFT
haltigen Vergleichsmaterials und in Zusammenarbeit mit dem englischen Philologen
J. Chadwick im Jahre 1953 die schon früher geäußerte Vermutung (Wl. Georgiew)
zu bestätigen, daß die Sprache der Linear-B-Inschriften mykenisches Griechisch sei,
ein griechischer Dialekt aus der zweiten Hälfte des 2. Jahrtausends, aber festgehalten
mittels einer phonetischen Silbenschrift, die ursprünglich für eine gänzlich anders¬
geartete Sprachstruktur bestimmt war. Was jedoch einen möglichen Einfluß dieser
und der übrigen kretischen Schriften auf die Entwicklung zu unserer Schrift betrifft,
halten wir solche Theorien nicht für berechtigt, Ausnahmefälle einer graphischen und
wahrscheinlich ganz zufälligen Übereinstimmung gewisser Zeichen ausgenommen.
Auch Kypern, eine andere Insel im Mittelmeer, die im Altertum Alaschija genannt
wurde, spielte eine gewisse Rolle in der Geschichte der Schrift. Kypern war Kultur¬
einwirkungen und bewaffneten Einfällen seiner mächtigen Nachbarn auf dem Fest¬
land, die in der Okkupation der Insel einen strategischen und mit Hinblick auf die
reichen Kupfervorkommen vor allem wirtschaftlichen Gewinn erblickten, weit mehr
ausgesetzt als Kreta. Die kyprische Silbenschrift auf Inschriften, die aus der Zeit um'
i xoo—1000 v. Chr. stammen, war nicht allzu schwer zu entziffern, denn von Anfang
an unterlag es keinem Zweifel, daß die entsprechenden Texte in griechischer Sprache
abgefaßt waren (S. Birch, 1872). M. Schmidt, der das Rätsel der kyprischen Schrift
löste, wies schon 1874 nach, daß es sich um eine ausgesprochen phonetische Silben¬
schrift handelt, und zwar eine solche mit Vokalzeichen und Zeichen für Kombina¬
tionen von Konsonanten und Vokalen (Abb. 10). Graphisch ist die kyprische Schrift,
deren Entstehung und Form gewöhnlich dem Einfluß der kretischen Kultur zuge¬
schrieben wird, allerdings außerordentlich interessant und reichhaltig, denn für die
einzelnen Silben wurden manchmal mehrere in der Konstruktion oft stark unter¬
schiedliche Zeichen verwendet. Ähnlich wie in der kretischen und kyprischen Schrift
könnten wir viele Zeichen der unmittelbaren Vorgänger und Frühformen der Latein¬
schrift identifizieren; nichtsdestoweniger wird angenommen, daß auch die kyprische
Schrift in geringerem Maß auf die weitere Entwicklung Einfluß genommen hat, eine
Entwicklung, die zu dieser Zeit auf dem nahen Festland zu einem überaus bedeut¬
samen Umschwung heranreifte.
Denn auf dem schmalen Küstenstreifen am Mittelmeer mit der syrisch-arabischen
Wüste im Rücken, in der politisch zerstückelten syrisch-palästinensischen Landschaft,
vollzog sich die Geburt eines Lautalphabets, von dem der Ursprung unserer Schrift
schon mit Sicherheit abgeleitet werden kann. Die schöne Frucht reifte seltsamerweise
im unfruchtbaren Boden des Siedlungsbereichs einiger kleiner westsemitischer Stämme :
der Phöniker, Amoräer, Hebräer, Aramäer u. a. Unter dauernder Bedrohung durch
mächtige Nachbarreiche und Nomadeneinfälle schufen diese Völker Werte von einer
Bedeutung, die den gleichzeitigen Großmächten Assyrien, Babylonien, dem Hethiter¬
reich und Ägypten unerreichbar blieb. Denn diese kleinen Völker im Schnittpunkt
der Einflüsse mächtiger politisch-kultureller Einheiten sammelten Anregungen aller
Art und aus aller Welt, um der Menschheit neben wertvollen Entdeckungen tech¬
nischer Art wie dem Purpur und dem Glas vor allem geistige Werte zu vermitteln, die
die Zielrichtung des späteren großartigen Verlaufs der europäischen Kulturgeschichte
für ein weiteres Jahrtausend vorausbestimmten (Hroznÿ).
Das Lautalphabet ist also unzweifelhaft in diesem westsemitischen Bereich entstan¬
den. Es war die große Entdeckung einer außerordentlich einfachen Sache, und man
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muß sich wundern, daß es nicht schon früher dazu kam. Alle bis dahin existierenden
Schriftsysteme waren sehr kompliziert, teils weil sie sich nicht vom gleichzeitigen Be¬
griffsausdruck freimachen konnten, teils wegen der zeichnerischen Relikte ursprüng¬
licher Piktogramme, die den graphischen Aufbau der Zeichen belasteten. Seltsamer¬
weise war die im internationalen Verkehr verwendete babylonische Schrift am weitesten
verbreitet, obwohl sie von allen Keilschriften die größte Zahl sumerischer Ideogramme
enthielt (Bauer). Das Prinzip des phonetischen Alphabets ist, wie wir bereits wissen,
außerordentlich einfach. Es genügt, für jeden einzelnen Sprachlaut ein möglichst ein¬
faches Zeichen zu setzen. In der Einfachheit bestand jedoch gerade das Schwierige
dieser Entdeckung, die eine besonders entwickelte ßeobachtungsgabe voraussetzte, um
zu erkennen, daß jede Sprache über eine bestimmte stabile Anzahl Laute verfügt, die
man zu jedem beliebigen Wort zusammenstellen kann. Der Weg, der zu dieser Ent¬
deckung führte, ist noch nicht so weit durchforscht, um uns den ganzen Zusammen¬
hang der Entwicklung, von der wir vorläufig nur einige isolierte Glieder kennen, mit
Sicherheit vor Augen zu führen. Unbekannt ist auch der Anteil der Phöniker, denen
entweder die gesamte Entdeckung des phonetischen Alphabets oder wenigstens seine
Vervollkommnung zugeschrieben wird. Diese zweite Ansicht scheint der Wahrheit
näher zu sein, denn im westsemitischen Umkreis entstanden in dieser frühen Zeit auch
andere Schriften, von denen gelten könnte, daß sie die Entstehung und Entwicklung
des phönikischen Alphabets beeinflußt haben.
Die größte Aufmerksamkeit rief in dieser Hinsicht seinerzeit in Fachkreisen die sog.
protosinaitische Schrift hervor. Sie kam auf Funden vor, die Sir W. M. Flinders-Petrie
1905 in den Türkisgruben bei Serabit auf der Halbinsel Sinai ausgegraben hatte, aber
die erst 1916 von dem Ägyptologen Allen H. Gardiner publiziert wurden (Abb. 13).
Es handelte sich um zwölf Inschriften auf steinernen Täfelchen und verschiedenen
anderen Gegenständen, die insgesamt von Bergleuten verfertigt waren, zweifellos ägyp¬
tischen Gefangenen und Sklaven semitischer Herkunft. Diese konnten allerdings nicht
zu den semitischen Nomaden gehört haben, die nicht an harte Arbeit gewöhnt waren
und in der Wüste lebten, so daß es schwer gewesen wäre, sie dort zu bewachen.
Ursprünglich waren es wohl nach Ägypten verschleppte westsemitische Gefangene;
im Nildelta hatten sich schon die semitischen Hyksos vor 1700 angesiedelt, um bis
etwa 1550 v. Chr. zu bleiben. Dort befanden sich auch jene Gebiete, von wo die ge¬
fangenen Israeliten am Anfang des 13. Jahrhunderts entflohen waren (Albright). All
das beweist die Richtigkeit der ursprünglichen Datierung der sinaitischen Inschriften,
die Flinders-Petrie in die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts v. Chr. ansetzte. Eine
Datierung bis in das Jahr 1800, wie sie A. H. Gardiner und nach ihm andere Forscher
vertraten, hat sich als übertrieben erwiesen. Der protosinaitischen Schrift, die mit der
Mehrzahl ihrer Zeichen auf eine Verwandtschaft mit den ägyptischen Hieroglyphen
hinweist, wurde von Anfang an große Bedeutung beigemessen. Man hielt sie für den
möglichen direkten Vorgänger des phönikischen Alphabets, weshalb sich eine ganze
Reihe von Forschern um ihre Entzifferung bemühte. Schon Gardiner stellte fest, daß
es sich dabei um eine alphabetische Schrift auf der Grundlage einer semitischen
Sprache handelte, und es gelang ihm auch, zehn ihrer Zeichen, deren phonetischen
Wert er durch die akrophonische Ableitung aus den ägyptischen Hieroglyphen er¬
mittelte, richtig zu identifizieren. Die weitere Arbeit an der Lösung des Problems
schritt nur langsam fort und verschiedene Forscher (Sayce, Gowley, Sethe, Butin,
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