KURSIVSCHRIFTEN DES GOTISCHEN TYPUS
es meiner Meinung nach wichtiger sein, ebenjene graphischen Eigenschaften - z. B.
das Runde oder Eckige der Schriftzeichnung - hervorzuheben, die diese oder jene
Art des Schreibens erleichtern oder erschweren.
Die Bastardschriften der tschechisch geschriebenen literarischen Handschriften ent¬
wickelten sich zwar vom Ende des 14. bis in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts zu
einer beachtlichen graphischen Mannigfaltigkeit, aber nichtsdestoweniger wies die
böhmische Handschriftbastarda stets festumrissene und mehr oder minder ausgeprägte
zeichnerische Merkmale auf, die auch für die böhmische gotische Kursiv typisch
waren. Ihre Deutlichkeit hängt vom Grad ihres formalen Duktus ab, der in dieser
Hinsicht natürlich eine große Spannweite von der Reproduktion der geläufigen Kursiv
bis zur sorgfältigen kalligraphisch feinziselierten Bastarda vom Typus der formalen
Schriften für kostbare Kodizes hatte. Vor dem Ende des 14. Jahrhunderts lebte sich
die böhmische Bastarda ganz ein, um zu der am häufigsten verwendeten böhmischen
Buchschrift des ganzen 15. Jahrhunderts und zur Hauptschriftform der böhmischen
Wiegendrucke zu werden und schließlich in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahr¬
hunderts Schriften von anderem Typus Platz zu machen. Während dieser langen
Zeitspanne entstand aus der Grundform der böhmischen Bastarda eine ganze Reihe
verschiedenartiger Schreibmodifikationen, die man meiner Ansicht nach in drei Haupt¬
kategorien einteilen kann, und zwar nach dem Charakter der Behandlung der Schrift¬
zeichnung. Von diesem Gesichtspunkt aus beurteilt ist die erste und anscheinend auch
ursprüngliche Form die böhmische Rundbastarda, eine Schrift geläufig geschriebener
Handschriften des 14. und 15. Jahrhunderts, die nach einer größeren Schnelligkeit
der Schreibausführung verlangten. Am häufigsten kommen solche Handschriften be¬
greiflicherweise in der hussitischen und der folgenden Periode vor, als der Bedarf an
Büchern in Böhmen fast allgemein war. Die Schnelligkeit des Schreibvorgangs wurde
durch den kursiv abgerundeten Duktus, der die gotische Eckigkeit und Brechung
vermied, ausgenommen vielleicht die manchmal dreieckigen Schleifen der Schäfte
beim b, d, h, к, l, noch erhöht. Zugleich wurde die Forderung maximaler Lesbarkeit
erfüllt, indem man die einzelnen Buchstaben isoliert schrieb und ihnen ein breites,
niedriges und fettes Schriftbild mit sehr kurzen Ober- und Unterlängen verlieh. Der
fette senkrechte Duktus überwiegt sowohl in der Frühzeit wie in der hussitischen Pe¬
riode, obwohl hier und dort auch eine weniger kontrastreiche böhmische Bastarda
vorkam. Im Alphabet dieser geläufigen knappen Form (Abb. 280) wirken nur einige
Majuskeln mit Elefantenrüsseln dekorativer, aber umso ausgeprägter ist ihre fette
Modellierung nach der schrägen Schattenachse. Unter den insgesamt aus der böhmi¬
schen Urkundenkursiv übernommenen Minuskelformen lenkt vor allem die unge¬
wöhnliche Form der Ligatur Ib, mit der man in manchen Handschriften der ersten
Hälfte des 15. Jahrhunderts den Buchstaben w umschreibt, unsere Aufmerksamkeit
auf sich. Im übrigen umfaßt diese geläufigste böhmische Bastarda natürlich alle
Hauptmerkmale der Schriften ihrer Klasse, vor allem das runde, nur oben zugespitzte
einbäuchige a und unter die Fußlinie verlängerte Schäfte beim/und langen i.
Diese Form der böhmischen Bastarda zeigt die Mehrzahl der wertvollen Denkmäler
der alten tschechischen Literatur: die tschechische Bibel von Leitmeritz aus dem
Jahre 1411 (Tafel GIV), die im Nationalmuseum befindliche Handschrift der Hus’schen
Postille von 1414, die nur wenig ältere Abschrift desselben Werkes von Johannes Hus
im Prager Klementinum, die tschechische Kuttenberger Bibel aus dem zweiten Viertel
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281. Böhmische gebrochene Bastarda, 15.-16. Jahrhundert.
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