KURSIVSCHRIFTEN DES GOTISCHEN TYPUS
Form gedieh die böhmische gotische Kursiv erst im 14. Jahrhundert, da mit der
Thronbesteigung der Luxemburgerkönige sich zwar auf die Schreibpraxis der böhmi¬
schen königlichen Kanzlei ein direkter französischer Einfluß geltend zu machen schien,
um andererseits zweifellos — ähnlich wie in der böhmischen gotischen Malerei und
Plastik - durch nicht weniger starke Einflüsse des heimischen Milieus und seiner Tra¬
dition ausgewogen zu werden. Die BÖHMISCHE GOTISCHE KURSIV des 14.
Jahrhunderts stellt allerdings, ähnlich wie andere nationale gotische Kursivschriften,
bei weitem keine uniforme Schrift von fest stabilisiertem Typus dar, sondern ihre zahl¬
reichen, auf der Individualität des Schreibers fußenden Abweichungen lassen ihre
Typisierung im Gegenteil außerordentlich schwierig erscheinen. Im großen und ganzen
kann man diese Schriften wenigstens nach der formalen Gestaltung des Duktus in
solche einteilen, die mit kalligraphischer Sorgfalt geschrieben sind, und in geläufige,
wirklich kursive Schriften. Vor allem die der ersten Kategorie finden wir selbstver¬
ständlich in den Urkunden der königlichen Kanzlei aus der Zeit des Johann von
Luxemburg und insbesondere Karls IV. vor, zu deren Regierungszeit das Schreiben
königlicher Urkunden einen Gipfel der Vollendung erreichte, z. B. in der Goldenen
Bulle von 1348 (Tafel XCIX) u. а. o. Der formale Duktus dieser Urkunden ist in der
Tat feierlich, was der Textseite ebenso wie dem Alphabet dieser böhmischen gotischen
diplomatischen Kursiv des 14. Jahrhunderts (Abb. 277) fast die Eckigkeit und Schärfe der
Textur verleiht. Die Schäfte der Buchstaben i, m, n, г, и sind am Kopf und Fuß ge¬
brochen und die Rundform des а, с und 0 wird durch Zuspitzung der Scheitel unter¬
drückt. Dem sind wir allerdings auch bei anderen kalligraphischen halbkursiven
Schriften begegnet, aber womit sich die Kursiv der böhmischen Urkunden der Zeit
Kaiser Karls von ihnen deutlich unterscheidet, das ist das charakteristisch Dekorative
der Zeichnung der gesamten Buchstabenreihe beider Alphabete. Diesen dekorativen
Duktus kann man vor allem im Majuskelalphabet feststellen, und manche der so
beschaffenen Majuskeln kommen auch in ein und derselben Urkunde in mehreren
Varianten vor. Die Schriftzeichnung wird bei der Mehrzahl dieser Buchstaben nicht
nur mit den üblichen gotischen Zusatzstrichen innerhalb des Schriftbildes versehen,
sondern noch weiter geschmückt, indem gewisse Züge außerhalb dieses Schriftbildes
zu Gebilden verlängert werden, die man in der modernen Paläographie treffend als
‘Elefantenrüssel’ charakterisiert. Diese Elefantenrüssel sind entweder horizontal wie
beim A und I, oder sie reichen tief unter die Fußlinie hinab wie bei den Buchstaben
В, M, N, P, R, oder sie weisen aufwärts wie manchmal beim G und F. Zu ähnlichen
Rüsseln werden die Schlußstriche auch einiger Buchstaben des kleinen Alphabets ver¬
längert, und zwar unter die Fußlinie wie beim h, j, m, n, x, y, z, und desgleichen bei
einigen der sehr zahlreichen und ausgiebig verwendeten Abbreviaturen. Im übrigen
verrät das kleine Alphabet dieser Kursiv eine gewisse Verwandtschaft mit der fran¬
zösischen zeitgenössischen gotischen Kursiv, indem es dieselbe charakteristische drei¬
eckige Schleife des Buchstabens v zeigt, die sich über dem geschlossenen Bauch des
eigentlichen Schriftbildes wölbt. Zu Dreieckformen werden auch die Schleifen der
Schäfte beim b, h, к, l gebrochen. Ähnlich schwingt die energische Schleife des d aus,
die den Bauch der Grundzeichnung bei weitem an Größe übertrifft. Das a kommt hier
nur nicht selten in seiner zweibäuchigen Form vor, einbäuchig ist in der Regel das g,
das jedoch oft mit einer kühnen Bogenlinie der unteren offenen Partie versehen wird.
Die Buchstaben/und langes j sind ähnlich wie in der französischen Kursiv durch ihre
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/га С г* /ѵч /ЛлС/
•V-5
•fjp-
xél
276. Böhmische gotische diplomatische Kursiv, 13. Jahrhundert.
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