KURSIVSCHRIFTEN DES GOTISCHEN TYPUS
des S. Man muß sich wundern, daß diese so schlecht lesbare Schrift in den englischen
Gerichts- und Fiskalschreibstuben bis ins 18. Jahrhundert verwendet werden konnte,
denn auch der lange Gebrauch erhöhte keineswegs ihre praktischen und ästhetischen
Werte. Wenn wir jedoch nach den Beispielen urteilen, die die englischen Kalligraphen
am Ende des 17. und während des 18. Jahrhunderts brachten, wie z. B. John Ayres in
seiner Sammlung A Tutor to Penmanship aus dem Jahre 1698, Richard Clark in
seiner Sammlung Practical Penmanship aus dem Jahre 1758 (Abb. 270), oder George
Bickham in seinem bereits erwähnten Sammelwerk aus dem Jahre 1743, erinnert die
court hand dieser Zeit auf den ersten Blick vielmehr an irgendeine orientalische Schrift
als an eine neuzeitliche Lateinschrift. Mit ihrem schmalen und dunklen Bild, der
spitzigen und kontrastreichen Schriftzeichnung, den dicht aneinandergedrängten ge¬
brochenen oder spitz auslaufenden Schäften bedeutet diese Skript bis zu einem ge¬
wissen Grade eine Rückkehr zum formalen Prinzip der Textur-Hochform des 14.
Jahrhunderts. Obwohl wir nicht die Absicht haben, diese späte und kuriose Modifika¬
tion der court hand eingehend zu analysieren, können wir doch nicht umhin, in ihrem
Alphabet (Abb. 269) wenigstens die Anwesenheit der Grundform des griechischen
Zeichens phi zur Kenntnis zu nehmen, die in ihrer reinen Form die Majuskel О dar¬
stellt und mit kleinen Abänderungen die Buchstaben G und Q,. Dieselbe Vertikale mit
nur einem Teil des Bogens stellt dann den grundlegenden Zug der Majuskeln С und
E vor. Im kleinen Alphabet traten während dieser Zeitspanne keine größeren Wand¬
lungen der Schriftzeichnung auf, die lediglich eckiger gestaltet wurde, wo dies nur
anging. So hat es z. B. das zwei- und dreibäuchige a, das uns mit seiner Ringform
zuvor an die bulgarische glagolitische Schrift erinnerte, nunmehr näher zum eckigen
Duktus der kroatischen Glagoliza. Ebenso eckig sind die Buchstaben c, d, 0, t und das
Schluß-i. Einen Hinweis wert ist die vereinfachte Zeichnung des m und n, die nunmehr
nur in Form isolierter Vertikalen der unverbundenen Schäfte geschrieben werden.
Die dritte, historisch sehr bedeutsame und graphisch interessante Form der engli¬
schen gotischen Kursiv war eine Schrift der Verwaltungs- und Kaufmannsschreibstu¬
ben, SECRETARY HAND genannt, die man in Urkunden schon aus dem 15. Jahr¬
hundert vorfindet. Sie war die gebräuchlichste englische Schrift der Gotik und Spät¬
gotik, blieb die ganze Renaissance-Epoche hindurch in Verwendung und verschwand
erst am Ausgang des Barocks. Die Schuljugend lernte sie schreiben, und natürlich
übten sich in ihr alle englischen Kalligraphen des 16. bis 18. Jahrhunderts, deren
Publikationstätigkeit Beauchesne und Baildon mit ihrer Kalligraphiesammlung aus
dem Jahre 1571 einleiteten. Im 15. und 16. Jahrhundert ist die secretary hand eine
typische Kursiv des gotischen Typus mit spitzer und mäßig gebrochener senkrechter
oder nur unmerklich geneigter Zeichnung des verhältnismäßig sehr breiten Schrift¬
bildes. In ihrem Alphabet aus dieser Zeit (Abb. 271) sind nur noch wenige für das
englische kursive Schreibwesen typische Zeichen übrig, von der eckigen Form des с
abgesehen, hingegen können wir darin leicht den Einfluß der französisch-niederlän¬
dischen Schreibkunst feststellen, der sich vor allem in der Zeichnung der Buchstaben
e> f g> r) s> V geltend macht. Von diesen kommt sodann insbesondere diejenige des g im
Alphabet der secretary hand ausgeprägt zur Geltung, weshalb sie ein typisches Merk¬
mal dieser Schrift darstellt. Eine ebenso kennzeichnende, obwohl uns bereits aus
anderen gotischen Kursiven bekannte Zeichnung hat das e.
Schon seit Beginn des 17. Jahrhunderts, wie uns die zeitgenössischen englischen
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2JI. Secretary hand, 15.-16. Jahrhundert.
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