KURSIVSCHRIFTEN DES GOTISCHEN TYPUS
aus, wo es durch die zahlreichen Ausgaben seiner vielen in Kupferstich reproduzierten
Sammlungen verbreitet wurde. Wir können nicht umhin, hier wenigstens seine Haar-
lemer Deliciae Variarum insignium scripturarum aus dem Jahre 1604, die berühmte
Sammlung Spieghel der Schrijfkonste, erschienen 1605 in Rotterdam, Thresor Lite-
raire aus demselben Jahr, Exemplaer-Boeck von 1607, Duytsch Exemplaren aus dem
Jahre 1620 und Sommige Exemplaren, Haarlem 1623, zu erwähnen.
Aus den Lehren, die diese kalligraphischen Sammelwerke spenden, und vor allem
aus der Sammlung Spieghel der Schrijfkonste des Jan van den Velde geht zweifellos
hervor, daß die ganze Renaissanceepoche hindurch und weit in den Barock hinein
ähnlich wie in Frankreich als wirklich heimische, niederländische Schrift, die NE-
DERLANDTSCHE LETTERN, kursive Schriften des gotischen Typus galten, die
man nach dem Grad der Kursivgestaltung des Duktus in zwei Hauptgruppen ein¬
teilen kann. Die erste enthält zwei sehr formale Schriften aus der Klasse der Bastarda,
deren eine, die fraktuer letter, eine sehr nahe Analogie der oberdeutschen Fraktur dar¬
stellt, was auch die zeitgenössischen niederländischen Schriftautoritäten zugeben. Das
einzige, worin sich die niederländische Fraktur von ihrem Muster wesentlich unter¬
scheidet, sind die ungewöhnlich fetten und unten in haarfeine Vertikalen auslaufenden
Schäfte des f und des langen s, aber einer solchen Form dieser Buchstaben sind wir
schon bei der älteren französischen Kursiv begegnet. Von der auf diese Weise aus ver¬
schiedenen fremden Elementen entstandenen niederländischen Fraktur unterscheidet
sich auch die zweite Schrift dieser Gruppe, die bastaerdt letter, in nichts wesentlichem
(Tafel XC), obwohl sie schon seinerzeit für eine typisch niederländische Kursivschrift
gehalten wurde. Doch weder das Textganze, noch die Zusammensetzung des Alpha¬
bets dieser Schrift (Abb. 263) läßt feststellen, was eigentlich ihren heimischen Cha¬
rakter ausmacht, wenn damit nicht das übertrieben Spitze der Schriftzeichnung
gemeint ist, wie es auch die niederländische Textur kennzeichnet, oder die gleiche
Gestaltung der Schäfte des f und des langen s wie in der niederländischen Fraktur. Es
scheint jedoch, daß eben diese absonderliche, aus Frankreich übernommene Buch¬
stabenform als Charakterzug des niederländischen Schreibwesens galt, denn sie kenn¬
zeichnet auch sämtliche Schriften der zweiten Gruppe der niederländischen Kursiv
des gotischen Typus.
In dieser Gruppe sind nichtformale Schriften der alltäglichen Korrespondenz zu¬
sammengefaßt, die in Jan van den Veldes Spieghel der Schrijfkonste unter den Sam¬
melnamen NEDERLANDTSCHE GHEMEYNE LETTERN fallen. Daß man sich
des Lokalcharakters dieser niederländischen Kursiv schon vor der Mitte des 16. Jahr¬
hunderts nicht nur in den Niederlanden, sondern auch im Ausland allgemein bewußt
war, bestätigt z. B. Caspar Neff in seiner Sammlung Thesaurium artis scriptoriae aus
dem Jahre 1549, in der er Ein Brabendisch oder Niederlendisch Schrifftlein zeigt, eine
sehr unruhige Kursiv, deren spielerisch lebhafte Zeichnung jener der französischen
lettre bâtarde nah verwandt scheint. Jene Kursiven hingegen, die van den Velde an
der Schwelle des siebzehnten Jahrhunderts als niederländische anführt, *ähneln der
Schrift dieser Gattung nur noch sehr wenig. Laut van den Velde gab es damals zwei
Hauptversionen der Skript nederlandtsche ghemeyne lettern. Die erste, grundlegende,
die van den Velde als vierkante stil-staende letter charakterisiert (Tafel XCI), ist eine
vertikale Skript, die zwar mit gebundenem Duktus geschrieben wird, aber immer
noch ein Streben nach der ausgeprägten und leserlichen Zeichnung der einzelnen
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264. Vierkante letter, 16.-17. Jahrhundert.