DIE VORGESCHICHTE DER LATEINSCHRIFT
Deren größtes Hindernis ist der Umstand, daß die erhaltenen Texte außerordentlich
kurz sind und man die Sprache, in der sie abgefaßt sind, nicht kennt. Von unserem
Standpunkt aus können wir nur die hervorragende künstlerische Qualität der ein¬
zelnen Charaktere in Betracht ziehen, das Treffende der zeichnerischen Abkürzungen,
von denen einige ihre graphischen Analogien in den zuvor behandelten sowie in jenen
Schriften haben, die wir in Kürze kennenlernen werden.
Parallel mit der ägyptischen, sumerisch-akkadischen, hethitischen und protoindi-
schen Hochkultur entfaltete sich in dieser Periode der ältesten Menschheitsgeschichte
eine weitere, nicht weniger bedeutende, die die Inseln und Gestade des Ägäischen
Meeres umfaßte. Brennpunkt dieser Kultur war die Insel Kreta, ihr Träger sodann
ein Volk bisher noch unbekannter Herkunft, das bestimmt - zumindest im Bereich
der bildenden Kunst - zu den begabtesten des frühen Altertums gehörte. Insbesondere
seine Malerei steht uns geistig und mit dem absolut Künstlerischen ihrer Formgebung,
der lebendigen und freien Gestaltung des Themas und Materials außerordentlich nahe.
Welch ein Gegensatz zwischen den lebensvollen, menschlich durchfühlten, ja genieße¬
risch frohen kretischen Malereien und der kalten, abstrakten Monumentalität der
ägyptischen Kunst ! Über die Geschichte dieses Volkes hervorragender Maler wissen
wir wenig, nur soviel, daß es ein Volk der Seefahrer war, die von anderen Kultur¬
zentren Anregungen und Errungenschaften übernahmen, um sie auf eigene Weise zu
verarbeiten und so eine neue und eigenartige Kultur hervorzubringen. Ein erfolgrei¬
cher Seehandel unterstützte die vielfältige heimische Produktion und führte zu einem
beachtlichen Wohlstand, der einen steilen kulturellen Aufschwung ermöglichte. Die
Blüte der etwa zweitausendjährigen kretischen Kultur, deren Anfänge die Kunstge¬
schichte in den Ausgang des 4. Jahrtausends datiert, läßt drei mehr oder weniger
unterschiedene Hauptphasen erkennen, die mit dem Namen des mythischen Kreter¬
königs Minos bezeichnet werden. Die ersten beiden dieser Perioden - die altminoische
(2800-2000 v. Chr.) und die mittelminoische (2000-1600) gelten als Zeit der reinen,
von äußeren Impulsen im Wesentlichen noch unbeeinflußten kretischen Kultur,
während man in der dritten, neuminoischen Periode (1600-1200) deutliche Spuren
griechischer Einflüsse erkennen kann. In dieser Zeit vermischten sich die zugewan¬
derten Achaier mit der einheimischen Bevölkerung, die sie Pelasger oder Eteokreter
nannten, und damit kam eine eigenartige Mischkultur zustande, die sog. mykenische
Kultur. In ihr lebte die kretische Kunsttradition, die im 3. und 2. Jahrtausend so hoch
über dem künstlerischen Durchschnitt des Nahen Ostens gestanden war, für eine Zeit¬
lang auch im eigentlichen Griechenland wieder auf. Erst die Invasion der Dorer nach
Griechenland und Kreta ließ den Einfluß des kretischen Kulturerbes erlöschen.
Es ist ganz natürlich, daß die kretische Kultur bei solchem Hochstand und der
Nähe anderer Kulturzentren sehr früh eine eigene Schrift hervorbrachte. Auf Kreta
finden wir sogar mehrere verschiedene Schriftformen vor, und einige davon auch
außerhalb Kretas. Bevor wir diese kretischen Schriften, die in außerordentlich zahl¬
reichen Funden erhalten sind, besprechen, müssen wir jedoch wenigstens kurz auf ein
vereinzelt dastehendes Denkmal eingehen, den sog. Diskus von Phaistos. Er ist mit einer
spiralenförmigen Inschrift geschmückt, die insgesamt 242 piktographische, mittels. 45
Stempeln vor dem Brennen in den weichen Ton gepreßte Zeichen umfaßt. Die in die
Endphase der mittelminoischen Periode - um 1600 v. Chr. - datierte Inschrift stellt
somit (und das ist für uns von besonderer Bedeutung) nach den assyrischen Keilschrift-
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y. Kretische Monumentalschrift, um 2000-1600 v. Chr.
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8. Kretische Linearschrift A, um ібу3-1600 v. Chr.
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g. Kretische Linearschrift В, etwa nach 1300 v. Chr.
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