KURSIVSCHRIFTEN DES GOTISCHEN TYPUS
manusskript. Ihrer kalligraphischen Zeichnung wegen bemerkenswerter ist die mer-
chantile fiorentina (Abb. 258), in der manche Schäfte mit offenen Schleifen, die oft an
den ersten Buchstaben des folgenden Wortes anknüpfen, weit nach links unter die
Fußlinie gezogen werden. Neben diesen ungewohnten kalligraphischen Verbindungs¬
strichen zwischen den Worten ist auch die Art der Anbringung des i-Punktes in der
Mitte der oberen Schaftschleife des vorhergehenden Buchstabens interessant. Vom
gleichen Typus ist auch eine lettera mercantesca, deren Alphabet und Textbeispiel
der venezianische Kalligraph Augustino in seiner Sammlung Opera nella quale si
insegna a scrivere aus dem Jahre 1565 anführt. Auch die merchantile bastarda unter¬
scheidet sich nicht wesentlich von den zuvor genannten; es war Augustinos Lands¬
mann und Vorgänger Vespasiano Amphiareo, der seine Version der italienischen
Handelskursiv in seiner Sammlung gleichen Titels aus dem Jahre 1554 so benannte.
Alle diese verschiedenen Versionen der italienischen Kaufmannskursiv haben die senk¬
rechte und klare Zeichnung gemeinsam, Merkmal des italienischen Sinns für ausge¬
wogene Proportionen.
Die lettera mercantesca kam auch als Druckimitation in einem Teil des Satzes im
Text des Lehrbuches Libretto molto utile per imparar a leggere, scriuere & abaco
vor, dessen Herausgeber Domenico Manzoni ist und das im Jahre 1546 bei Gomin
da Trino in Venedig gedruckt wurde (Johnson). Der Schnitt dieser Schrift nach einer
eigenhändigen Vorlage Manzonis unterscheidet sich im ganzen nicht von den erwähn¬
ten Beispielen. Sporadisch kommt sie auch in anderen Büchern desselben Autors und
Druckers vor, aber sie hatte keine Aussicht, in der starken Konkurrenz zeitgenössischer
Kursiven des Renaissancetypus, die inzwischen im italienischen Buchdruck gesiegt
hatten, erfolgreich zu sein.
Ein ausgeprägt gotischer Duktus kennzeichnet eine weitere in der Sammlung Pala¬
tinos enthaltene Schrift, die dort LETTERA NOTARESCA genannt wird (Abb. 259).
Sie ist eine kleindimensionierte, mit verhältnismäßig breiter Feder geschriebene Kanz¬
leischrift mit schmaler und kontrastreicher, scharf geschnittener Zeichnung der dicht
zusammengedrängten Buchstaben. Sonst ist die lettera notaresca vor allem der leichten
Neigung ihres kleinen Alphabets wegen interessant, was bei den Kursiven des goti¬
schen Typus in dieser Zeit ziemlich selten vorkommt. Das Majuskelalphabet setzt sich
aus senkrechten Buchstaben von ungleicher Höhe und stilmäßig uneinheitlicher Zeich¬
nung zusammen und spannt sich von den vereinfachten Formen zeitgenössischer deut¬
scher Bastarden bis zu ausgesprochenen Renaissanceformen, wie sie beispielsweise die
Buchstaben В, С und Q_ zeigen.
Völlig verschieden ist eine mit ihrem strikt gotischen, konsequent gebrochenen for¬
malen Duktus an gewisse deutsche Schriften gemahnende Kursiv, die im Musterbuch
Palatinos als lettera tagliata bezeichnet wird (Abb. 260). In der Schriftzeichnung ihres
kleinen Alphabets, das im übrigen gotisch dunkel und eckig ist, verdient die Renais¬
sanceform der Buchstaben d und к Aufmerksamkeit. Die Majuskeln hingegen stehen
insgesamt den ausgesprochen nordischen doppellinearen Versalien des gotischen Typus
in Buchdruckform nahe. Seinen Namen verdankt diese Skript der weißen horizon¬
talen Linie, die in der Schriftzeichnung in der Mitte der Mittelhöhe ausgespart ist,
was sicher leicht durchzuführen war, indem man auf dem fertigen Holzschnitt einen
Schnitt mit dem Messer oder Stichel das angelegte Lineal entlang führte, aber in der
eigentlichen Schreibpraxis sehr schwierig gewesen sein mochte. Darum begegnen wir
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256. Lettera mercantesca, 16. Jahrhundert.
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