KURSIVSCHRIFTEN DES GOTISCHEN TYPUS
phase die Verwendung einer speziellen Kursiv des gotischen Typus zum Schreiben
päpstlicher Bullen die Regel; sie wird in den Kalligraphiehandbüchern der Renais¬
sance als LETTERA BOLLATICA oder lettera di bolle apostoliche oder littera Sancii
Petri bezeichnet. Diese Schrift blieb in der päpstlichen Kanzlei bis in die zweite Hälfte
des 19. Jahrhunderts in Gebrauch, um während einer so langen Zeitspanne natürlich
gewissen zeitlich bedingten und meist schädlichen Einflüssen zu unterliegen. Doch
auch im 16. Jahrhundert, nach den Beispielen in verschiedenen Sammlungen italie¬
nischer Kalligraphen zu schließen, hatte die lettera bollatica keinen ganz uniformen
Duktus; so diejenige des kalligraphischen Sammelbands Lo presente libro insegna
la vera arte de lo excellente scrivere von Giovanni Antonio Tagliente, der ihn im
Jahre 1524 in Venedig herausgab. Seine lettera bollatica (Abb. 254) ist durch ein sehr
klein dimensioniertes und schmales Schriftbild und vor allem durch die breiten schrä¬
gen Serifen der sehr langen Oberlängen charakterisiert, ebenso wie durch die weit nach
oben gezogenen Bogen des / und des langen s. In anderen italienischen Schrifthand¬
büchern und insbesondere in den päpstlichen Urkunden des 16. Jahrhunderts hat die
lettera di bolle vielmehr ein breites Schriftbild mit proportionierten Schäften ohne
obere Serifen. Das Alphabet dieser Form der bollatica läßt auf den ersten Blick ihre
Verwandtschaft mit der italienischen Rotunda erkennen, was übrigens auch Tagliente
bestätigt, wenn er erklärt, die ‘lettera bollatica... è uscita dalla lettera formata’. Von
der Rotunda unterscheidet sich die lettera bollatica dieser Gattung allerdings durch
grundsätzlich kursive Merkmale: die einbäuchige a-Form und die unter die Fußlinie
verlängerten Schäfte des / und des langen s. In dieser Gestalt ist die lettera di bolle
auch m ihrer Druckversion erhalten, was von nicht geringer historischer Bedeutung
ist, denn damit war die lettera di bolle ohne Zweifel die erste Kursivschrift, die je in
einer Druckimitation erschien, als Schrift, mittels welcher eine Handschrift im Buch¬
druck nachgeahmt werden sollte, d. i. als erster Druckskript. Diese Tatsache hat
.F. Johnson entdeckt und in seinem Buch Type designs aus dem Jahre 1934 ver¬
öffentlicht. Er konnte feststellen, daß ein Formular einer Heiratslizenz in den Samm¬
lungen des British Museum, die von der Institution Collegium della Fabbrica di S.
Pietro in Rom herausgegeben wurde, in einer kursiven Druckimitation der lettera di
bolle im Sammelband des Ludovico Arrighi Vicentino aus dem Jahre 1523 gesetzt
ist. Der genannten Institution war durch eine Bulle des Papstes Klemens VII. aus
dem Jahre 1542 das Privileg erteilt worden, Heiraten zu bewilligen, die sonst in den
Schranken des geltenden Kirchenrechts nicht zulässig waren. Johnson nimmt an, daß
das Formular bald nach 1542 und bestimmt vor 1550 gedruckt wurde, worauf auch
der typographische Gesamtcharakter hindeutet. Sehr wahrscheinlich ist, daß der Druck
im engen Kontakt des Druckers mit dem Vatikan erfolgte, und zu dieser Zeit konnte
sich nur Antonio Biado einer solchen Gunst erfreuen. Die Druckform der lettera di
bolle fesselt durch die eigenwillige Zeichnung gewisser Lettern, vor allem der Unzial-
orm des d, dessen gesamte Zeichnung in den Grenzen der mittleren Minuskelhöhe
zusammengezwängt wurde. Die Lettern des großen Alphabets sind, soweit uns das
Beispiel A. F. Johnsons erkennen läßt, verhältnismäßig maßvolle Varianten der jün¬
geren Form der gotischen Majuskel. Mit ihrem graphischen Gesamtniveau hat es
diese Schrift nicht weit zu den zeitgenössischen Bastarden, und sie zeichnet sich als
Druckschrift sicher durch mehr Werte aus als viele andere Schriften dieser Art.
Die lettera bollatica begleitete im 16. Jahrhundert in den Überschriftzeilen der
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LETTERA MERCANTESCA
päpstlichen Urkunden eine schmale Schrift, die wir hier bereits als gotische Gitter¬
schrift kennengelernt haben, und im Text eine ornamentale, uns ebenfalls schon be¬
kannte schmale Variante der älteren Form der gotischen Majuskel. Mit der Zeit
degenerierte die lettera di bolle in der Manier der Schreiber der päpstlichen Kurie
immer schneller, um im 18. Jahrhundert nahezu unlesbar zu werden. Im 19. Jahr¬
hundert erreichte ihr Verfall einen solchen Grad, daß nichts anderes übrigblieb, als
ihre Verwendung durch einen päpstlichen Erlaß zu verbieten.
Tagliente führt uns in seinem erwähnten Büchlein eine ebenfalls sehr nahe Analogie
seiner Version der Schrift der päpstlichen Bullen vor Augen. Diese dekorative
Variante bezeichnet er als lettera imperiale. Mit Hinblick auf die Konstruktion des
kleinen Alphabets gelten in der Tat Taglientes eigene Worte, daß ‘la lettera imperiale
è simile a la lettera bollatica’. Hingegen übertreffen die Majuskeln und die Art des
Abschlusses der verlängerten Schäfte der lettera imperiale beiweitem ihre päpstliche
Analogie durch den ornamentalen Reichtum der kalligraphischen Behandlung.
In den Sammlungen der italienischen Kalligraphen des 16. Jahrhunderts sind noch
zahlreiche weitere Kursiven des gotischen Typus vertreten. Neben dekorativen kalli¬
graphischen Versionen der Textur mit verlängerten Schäften des / und des langen s,
im übrigen aber von formalem, ganz unkursivem Duktus, die als lettera francese be¬
zeichnet werden, oder anderen gotischen Schriften fremder Herkunft, wie der lettera
tedesca und der lettera spagnola, werden manchmal gewisse heimische Varianten der
gotischen Kursiv erwähnt, die für Italien viel interessanter sind und bis weit in die
Renaissance hinein in konservativen Kaufmannskreisen verwendet wurden. Diese
LETTERA MERCANTESCA, wie die italienischen Kalligraphen des 16. Jahrhun¬
derts die Schriften dieser Gattung nennen, mußte natürlich, was die Schnelligkeit des
Schreibvorgangs betrifft, viel größeren Ausprüchen gerecht werden. Wir finden daher
in ihrem Alphabet (Abb. 256) zahlreiche Schleifen vor, die eine fließende Schreib¬
weise in einem Zug ermöglichen sollten, obschon viele dieser Schleifen und gerade die
für diese Kursiv charakteristischsten - wie die nach rückwärts gewandten der Schlu߬
buchstaben a, d, e, h, i - einer schnellen Schreibung eher hinderlich waren. Die lettera
mercantesca war in Italien sehr beliebt und verbreitet, und es scheint, daß sie auch
eine lange Tradition hatte, weil sich ihr Duktus bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts zu
mehreren lokalen Modifikationen verzweigte. Zur allgemeinen europäischen gotischen
Kursiv hatte es zweifellos die Skript merchantile milanese am nächsten, was auch der
Tatsache entspricht, daß der gotische Stil in Norditalien ausgeprägter war. Diese
Kursiv hat eine kleindimensionierte und runde Schriftzeichnung mit allen uns bereits
bekannten Merkmalen gotischer Skripten, vor allem reich entfalteten oberen Schleifen,
die bis zur mittleren Schrifthöhe hinabreichen, so daß sie sich bei den Buchstaben b,
d, h mit dem Bauch des eigentlichen Schriftbildes verbinden. Ausgeprägt sind vor
allem die langen und spitz auslaufenden Schäfte des f j, p, q und des langen s. Aus
der Zeichnung der absonderlichen Majuskel M kann man jedoch schließen, daß für
die italienischen Kaufmannskursiven vor allem das große Alphabet charakteristisch
war. Palatino weist unter seinem Beispiel der merchantile milanese (Abb. 257) mit
Nachdruck darauf hin, daß ‘tutte le soprascritte lettere si fanno ad un sol tratto’,
womit diese Skript im ganzen mit der formaleren Kursiv merchantile romana überein¬
stimmt. Im übrigen unterscheidet sich auch eine weitere Kursiv dieser Gattung, die
merchantile venetiana, in der Schriftzeichnung nur unwesentlich von der Mailänder Kauf-
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