KURSIVSCHRIFTEN DES GOTISCHEN TYPUS
ganze 18. Jahrhundert hindurch und noch am Anfang des 19. im französischen Schreib¬
wesen begegnen (Abb. 253). Diese Skript entfernte sich unter dem Einfluß der gleich¬
zeitigen bâtarde coulée beträchtlich vom gotischen Schriftcharakter, obwohl über ihre
direkte Herkunft von der gotischen Kursiv vom Typus der lettre françoyse kein Zweifel
bestehen kann. Ebenso steht außer Zweifel, daß sie im 18. Jahrhundert die einzige
noch lebendige, wirklich französische Form einer heimischen Schrift des gotischen
Typus war und deshalb den Titel écriture françoise erbte, wie es die zeitgenössischen
Kalligraphiesammlungen und Musterbücher der französischen Schriftgießer beweisen.
So führt Louis Luce, ein hervorragender Schriftgießer des 18. Jahrhunderts und Gra¬
veur der Imprimerie Royale, in seinen Schriftproben von 1771 aus, daß die in ganz
Europa écriture françoise genannte ronde nur eine von den berühmten Schreibern
der Zeit Ludwigs XIV vereinfachte gotische Schrift sei, deren Ecken abgerundet und
deren Zeichnung ‘dem Auge angenehmer’ gemacht worden sei. Da diese Form einer
Urkundenkursiv jedoch nicht leicht war, wurde sie später durch Skripten ersetzt, die
ein schnelleres Schreiben gestatteten. Dessenungeachtet kommt die ronde noch lange
Zeit in den Sammlungen der Kalligraphen vor, ebenso wie als Druckimitation in den
Musterkatalogen der Schriftgießer und Druckereien in ganz Europa.
Die nach Hermann Delitsch auch von der italianisierten Version der spanischen
redonda, der redondilla, beeinflußte französische ronde wurde in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts als Schönschriftform wiederbelebt, die den zeitgenössischen Kur¬
sivschriften des Latein- wie des gotischen Typus ungefähr gleich nahe stand. Um diese
Renaissance hat sich in erster Linie zweifellos der deutsche Industrielle Soennecken
verdient gemacht, weil er in seiner Fabrik für stählerne Schreibfedern in Bonn eine
breit zugeschnittene Feder herstellte, die allgemein als ‘französische’ bekannt ist. Um
sein neues Erzeugnis zu fördern, gab Soennecken im Jahre 1875 ein kalligraphisches
Lehrbuch heraus, das nicht nur seine Feder, sondern auch seine Rundschrift in Deutsch¬
land einführte. Die französische Schrift’, wie man diese Skript andernorts auch nannte,
hatte weder in Deutschland noch anderswo allzu günstige Aussichten auf dauernde
Verwendung. Mit seiner ‘französischen’ Feder hat sich Soennecken jedoch nicht wenig
verdient gemacht, weil er jenen, die auch heute noch das Bedürfnis haben, zur vor¬
klassizistischen Schreibtradition zurückzukehren, das geeignete Werkzeug lieferte.
Nach Italien lokalisieren manche Forscher die eigentliche Herkunft der gotischen
Kursiv, und in der Tat ist die frühe italienische gotische Kursiv schon auf bewundernswerte
Weise entwickelt. Bereits im 13. Jahrhundert stabilisiert sie sich zu einer charakteristi¬
schen heimischen Skript, die zum Ausgangspunkt der Entwicklung einer ganzen Reihe
interessanter Modifikationen der gotischen Kursiv im italienischen Schriftschaffen
wurde. Anfänglich handelte es sich meist um eine in einem einzigen Zug geschriebene
Kursiv, die sämtliche bereits erwähnten Merkmale einer Kursiv des gotischen Typus
einschließlich des einbäuchigen a, der unter die Fußlinie verlängerten Schäfte des f
und des langen j und des Abschlusses der nach oben auslaufenden Züge durch die
kühnen Dreiecke nach rechts gebogener Schleifen und der weit nach links ausschwin¬
genden Schlinge des d aufweist. An die französische gotische Kursiv erinnert die rück¬
wärts gewandte Krümmung des ersten Strichs des v und die Form des Schluß-^. Diese
Schrift ermöglichte eine beachtliche Schnelligkeit des schriftlichen Vermerks, wozu
auch zahlreiche Abbreviaturen beitrugen. Das erschwerte wieder in nicht geringem
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253. Ronde, 18. Jahrhundert.