DIE VORGESCHICHTE DER LATEINSCHRIFT
Die monumentalisierenden Tendenzen und die Zweckbestimmung fast aller uns
bekannter Äußerungen der altägyptischen Kultur und Kunst, besonders der Plastik
und Architektur, waren impulsgebend für das steigende Niveau der Steinbearbei¬
tungstechnik, die auch vor dem härtesten Material nicht zurückschreckte. Für den
Meißel des erfahrenen Bildhauers war es nicht weiter schwierig, die Zeichnung eines
Schriftzeichens, wie fein sie auch gewesen sein mag, festzuhalten und formal auszu¬
feilen, und so blieb der piktographische Charakter in den monumentalen Inschriften
nicht nur erhalten, sondern er entwickelte sich darüber hinaus zur konzentrierten
Zeichnung von außergewöhnlicher Vollendung, die mit der Monumentalität der for¬
mal geschlossenen, typisierten und stilmäßig stabilisierten ägyptischen Plastik und
Architektur völlig übereinstimmte. In künstlerischer Hinsicht ist diese Schrift in der
Tat schön, mit ihrer bewundernswerten Ordnung der Maß Verhältnisse der einzelnen
Zeichen und ihrer Harmonie im Ganzen der Inschrift, die die zur Verfügung stehende
Fläche hervorragend nutzte, ob sie von oben nach unten oder in horizontalen Reihen
von rechts nach links oder in Ausnahmefällen umgekehrt geschrieben wurde, wobei
die Blickrichtung der figuralen Zeichen die Leserichtung andeutete. Diese schönen
ägyptischen Hieroglyphen, Ausgangspunkt für die übrigen Formen der ägyptischen
Schrift, waren jedoch längst keine reine ideographische Schrift mehr. Schon sehr früh
umfaßten sie auch eine Gruppe phonetischer Zeichen in Gestalt von Piktogrammen,
deren Namen mit dem entsprechenden Laut begannen. Das Besondere an diesem
akrophonisch entstandenen ägyptischen Alphabet war jedoch, daß es ausschließlich
Phonogramme von Konsonanten enthielt. Sie reduzierten die ägyptische Schrift zwar
theoretisch auf bloße 24 Zeichen (Abb. 4), die aber in Wirklichkeit von den alten
Ägyptern nie als rein phonetische Schrift verwendet wurden. Die Unzulänglichkeit
des Konsonantenprinzips des ägyptischen phonetischen Alphabets führte offenbar not¬
gedrungen zu einer sehr komplizierten Praxis, nach der jedes Phonogramm immer von
einem es erläuternden Ideogramm begleitet wurde. Die Anzahl der letzteren war stets
viel zu groß, als daß die Entdeckung des phonetischen Alphabets für die Ägypter
einen umwälzenden Gewinn bedeutet hätte. Dessenungeachtet kam eine ausgedehnte
ägyptische Literatur von hervorragendem Niveau zustande, wovon auch die hiera¬
tische Schriftkunst profitierte. Sie erreichte besonders in den berühmten Totenbüchern
einen Gipfel an kalligraphischer Virtuosität. Auch die altägyptische Schrift hielt sich
ganze Jahrtausende bis in unser Zeitalter: Die jüngste datierbare Hieroglyphenin¬
schrift stammt aus der Zeit des römischen Kaisers Decius, also aus den Jahren 249-
251, der jüngste hieratische Text aus dem Jahre 212 und die jüngsten demotischen
Inschriften sogar aus dem Jahre 473 n. Chr. Inzwischen begann man sich in Ägypten
jedoch seit dem 2. Jahrhundert allgemein der griechischen Schrift zu bedienen, so daß
die ägyptische im Laufe der folgenden Jahrhunderte allmählich in Vergessenheit
geriet.
Von unserem Gesichtspunkt aus verdient auch die Kultur einer weiteren vorder¬
asiatischen Großmacht Aufmerksamkeit. In Ghatti, dem mächtigen Reich der indo¬
germanischen Hethiter Kleinasiens, war den beiden anderen Hauptkulturzentren des
frühen Altertums ein fast gleichwertiger Rivale erstanden. Die durch verschiedene
Kunst- und Schriftdenkmäler belegte hohe Kultur der Hethiter übte ihren Einfluß
vor allem auf die kleinen Völker aus, die den schmalen Landstreifen zwischen dem
Mittelmeer und der syrischen Wüste bewohnten, einen Einfluß, der erst mit dem
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jähen Zerfall des Hethiterreichs um 1200 v. Chr. erlöschte. Unser besonderes Interesse
nehmen vor allem die hethitischen Hieroglyphen (Abb. 5) in Anspruch. Sie sind durch
die bemerkenswert künstlerische Gestaltung und die unzweifelhafte Verschiedenheit
von den ägyptischen Hieroglyphen gekennzeichnet. An der Entzifferung der hethi¬
tischen Hieroglyphen, deren Anfänge bis in die zweite Hälfte des 3. Jahrtausends
zurückreichen, sowie an jener der hethitischen Sprache hat auch die tschechische
Wissenschaft ihren Anteil, denn es war Professor Bedrich Hroznÿ, der diese Aufgabe
1933 zu allgemeiner Zufriedenheit zu Ende führte. Nichtsdestoweniger hat die Ent¬
deckung einer zweisprachigen hethitisch-phönikischen Inschrift, die H. Bossert nach
dem zweiten Weltkrieg aufland und publizierte, die Lesart B. Hroznÿs nur etwa zur
Hälfte bestätigt. Jetzt erst können die hethitischen Hieroglyphen als verläßlich ent¬
ziffert gelten. Vorher hatte Hroznÿ jedoch die Sprache der Keilschrift-Hethiter de¬
chiffriert, die mit jener der sog. hieroglyphischen Hethiter zwar verwandt war, aber
offenbar von einem ganz anderen indogermanischen Volk gesprochen wurde. Wie
die ägyptischen Hieroglyphen waren auch die hethitischen eine Schrift von höherem
Typus, denn neben piktographischen Ideogrammen umfaßten sie einige phonetische
Zeichen. Vom Gesichtspunkt des Zeichnerischen aus werden die hethitischen Hiero¬
glyphen in monumentale und kursive Formen eingeteilt. Ihr formaler Ursprung ist
bisher auf verschiedene Weise erklärt worden. Die Möglichkeit ihrer unabhängigen
Entstehung wird zwar nicht ausgeschlossen, aber öfter werden ihre Beziehungen zu
einer Reihe verschiedener zeitgenössischer Schriften - vor allem zur kretischen -
untersucht, denn die zeichnerische Verwandtschaft mancher Charaktere beider Schrif¬
ten scheint für solche Beziehungen zu sprechen (Evans, Gelb). Die hethitische Keil¬
schrift konnte sich keineswegs der formalen Eigenart der meisten hethitischen Hiero¬
glyphen rühmen, was schon aus der graphisch sehr beschränkten Keilschrifttechnik
hervorgeht.
Mit den hethitischen Hieroglyphen formal verwandt ist bis zu einem gewissen Grade
auch die protoindische Schrift. Sie wurde bei archäologischen Grabungen entdeckt, die
1922-1931 in Mohendjo-Daro und Harappa im Tal des Indus (Nordwestindien)
durchgeführt wurden (Abb. 6). Die protoindische Kultur stand auf überraschend
hoher Stufe. Sie gesellt sich zweifellos gleichwertig zu den großen zeitgenössischen
Kulturen - der sumerisch-babylonischen, der hethitischen und der ägyptischen.
B. Hroznÿ, der auch die protoindische Schrift zu entziffern versuchte, datierte deren
Inschriften um 2400—2100 v. Chr. Die heutigen Schätzungen gehen nicht so weit und
setzen sie höchstens um und eher nach 2000 an. Als nicht ganz verläßlich gelten auch
Hroznÿs Entzifferungsversuche, vor allem dort, wo er mit ihnen an seine inzwischen
stark erschütterte Deutung der hethitischen Hieroglyphen anknüpfte. Annehmbar ist
jedoch seine Ansicht, daß die protoindischen Hieroglyphen sich aus einem unbekann¬
ten piktographischen Prototyp entwickelt hätten, was der hier bereits erwähnten Hy¬
pothese G. R. Drivers über einen gemeinsamen piktographischen Prototyp der sume¬
rischen, elamitischen und protoindischen Schrift entspricht. Wahrscheinlich ist auch,
daß die protoindische Schrift zu einer phonetisierten Form gedieh, indem sie sich zu
einer Silbenschrift entwickelte, wenngleich manche Charaktere ihre ursprüngliche
ideographische Bedeutung beibehielten. Die Versuche einer Entzifferung der proto¬
indischen Schrift, an denen sich zahlreiche Forscher von Weltrang beteiligen, haben
übrigens auch heute noch nicht zu einer über alle Zweifel erhabenen Lösung geführt.
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