KURSIVSCHRIFTEN DES GOTISCHEN TYPUS
mung dieses Buches erläutert Granjon die Absichten, die er mit seiner Schrift ver¬
folgte. Er führt aus, er habe den Franzosen eine wirklich nationale Schrift geben
wollen, die sich auf die nationale Manuskriptschrift gründe, eine französische Analogie
der Schriften anderer Völker, die an der gotischen Tradition festhielten. Diesen patrio¬
tischen Gedanken realisierte Granjon, indem er nicht die Buchschrift lettre bâtarde,
sondern die zeitgenössische heimische geläufige Kursiv zu seinem Vorbild machte,
und damit hat er sie uns in ihrer stabilisierten Idealform erhalten. Die französische
Bastarda gehörte schon zu Granjons Zeiten, da französische Bücher allgemein mit der
bereits fest verankerten Renaissanceschrift gedruckt wurden, der Vergangenheit an;
neben der vorgenannten konnte auch Granjons neue Schrift nicht auf einen Erfolg
von längerer Dauer und auf eine breitere Verwendung im Bereich der Buchproduktion
hoffen.
Muster für die lettre de civilité war eine mit sehr weicher Feder geschriebene Kursiv,
in deren Alphabet (Abb. 246) somit gewisse Züge durch ihre Stärke die Aufmerksam¬
keit auf sich lenken, vor allem bei den Buchstaben d,f und dem langen i, Um nach
Möglichkeit den Eindruck einer Manuskriptschrift zu erwecken, gravierte Granjon
jeweils mehrere Varianten eines Buchstabens zur Verwendung am Anfang, in der
Mitte oder am Ende eines Wortes. Darum sind beispielsweise die Kleinbuchstaben
d, e, h, l, r, s, t,y mit zwei und m, n, u, sogar mit drei Varianten vertreten. Das lange
s und das/ verletzten mit der energischen fetten Zeichnung ihrer sehr langen Schäfte
die im übrigen vorherrschende Horizontalität des Duktus. Das handschriftliche Aus¬
sehen unterstützt auch die große Zahl von Ligaturen und die Zeichnung der Versa¬
lien, die manchmal sehr kühn gestaltet werden, z. B. das A, D, R und S. Die ziemlich
weiten Zeilenabstände, die sich aus dem besonders kleinen Schriftbild des kleinen
Alphabets und der beträchtlichen Länge gewisser Schäfte ergeben, sind mit kalligra¬
phischen Bögen und Kurven ausgefüllt, die die Gesamtwirkung des Satzes unruhig
machen. Darüber hinaus wird das Schriftensemble durch großdimensionierte Initialen
ergänzt, in deren kalligraphischen Schwüngen oft die eigentliche Schriftkonstruktion
und mit ihr die Lesbarkeit schwindet.
Mit seiner neuen Schrift druckte Granjon in den Jahren 1557-1562 selbst etwa
20 Bücher. In einem davon (P. Galtheri Alexandreidas Libri duem) druckte Granjon
das ihm im Jahre 1557 von König Heinrich II. verliehene Privileg ab, das ihm für die
Dauer von zehn Jahren das Monopol der Herstellung einer Schrift neuen Schnitts
sichern sollte. Doch derartige Privilegien waren, wie wir noch sehen werden, selten
von Wert. Darum wurde auch Granjons Schrift lange vor dem Ablauf der Frist von
anderen Druckern kopiert. Schon im Jahre 1559 bedienten sich Richard Breton und
Philippe Danfrie in Paris einer sehr nahen Kopie der lettre de civilité. Das geschah
wohl kaum mit Zustimmung Granjons, denn dann hätte kein Grund bestanden, seine
Schrift nachzuahmen. Granjon lieferte jedoch inzwischen selbst Matrizen seiner Civi-
lité-Schrift ins Ausland, z. B. an Plantin, der drei ihrer Versionen besaß, von denen
zwei in seinem Index Characterum von 1567 enthalten sind. Zu dieser Zeit, in den
Jahren 1565 und 1566, war Granjon in Antwerpen tätig, und hier lieferte er die Civilité
auch anderen niederländischen Druckern. Zu den ersten mit dieser Schrift gedruckten
Büchern gehörte die Civilité puerile des Erasmus (Jean Bellère, Antwerpen 1559) und
La Civile honesteté pour les enfans (R. Breton, Paris 1560). Man hielt es nämlich für
außerordentlich vorteilhaft, wenn die Kinder eine mit der geläufigen Kursiv überein-
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246. Lettre de civilité, 16. Jahrhundert.
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