KURSIVSCHRIFTEN DES GOTISCHEN TYPUS
auch auf die gewöhnliche Kursiv, um in diesem Sinne in Frankreich bis zum Ende
des 18. Jahrhunderts in Gebrauch zu bleiben.
Wie bereits der Name erkennen läßt, war die lettre bâtarde schon bei ihrer Geburt
zweifellos eine Buchschrift, eine Bastarda, und als solcher begegnen wir ihr in den
Buchhandschriften des dritten Viertels des 14. Jahrhunderts. Aus unserem Beispiel
einer solchen Handschrift von 1368 (Abb. 240) geht einerseits hervor, daß es sich hier
um ein Buch in der Volkssprache handelt, andererseits, daß die Schreibausführung
das Niveau der lettre bâtarde der königlichen Urkunden beiweitem nicht erreicht.
In dieser Hinsicht treten durchaus natürlich beachtliche Schwankungen auf, obwohl
es sich sonst insgesamt und prinzipiell um dieselbe Schrift handelt, was wir anhand
unseres Alphabets (Abb. 241), das die geläufigsten Varianten einzelner Buchstaben
einschließt, überprüfen können. Wir sehen beispielsweise, daß das a eckige Formen
angenommen hat oder oben zugespitzt wird, aber in jedem Fall dieselbe einbäuchige
Konstruktion aufweist. Auch die Varianten des b stehen einander mit ihrer zwei-
bäuchigen, an die Majuskel erinnernden Form nahe. Der Oberteil des c-Bogens wird
horizontal begradigt, womit dieser Buchstabe der kursiven Abkürzung des e, die neben
der normalen Minuskelform sehr oft vorkommt, weitgehend ähnlich wird. Interessant
sind die Modifikationen des d, dessen Schleife entweder weit nach links ausschwingt
oder eckig gebrochen oder um die Vertikalachse des Buchstabens gewunden wird, so
daß sie der arabischen Zahl 8 ähnelt. Die fetten Schäfte des f und des langen s werden
tief unter die Fußlinie verlängert, wobei sich der Strich zugleich verengt und zuspitzt.
Im Kopfteil sind diese Buchstaben entweder gebogen oder gebrochen. Vom eckigen
Bauch des g verläuft eine verschiedenartig geschwungene Bogenlinie nach unten, und
ähnlich werden die Schlußstriche des h, m und n verlängert. Die Buchstaben i, 0, p, q, t
sind in Minuskelform vertreten, während die runde Variante des r die Form des
heutigen г annimmt. Sehr typisch für die lettre bâtarde ist die geschlossene Form des
Schluß-i, ebenso wie das v am Wortanfang mit charakteristischem, hoch geschwun¬
genem Bogen und geschlossenem Bauch. Eine interessante und gleichfalls charakte¬
ristische Form hat das rechts in Form eines Bauches geschlossene x. Im ganzen ist
die lettre bâtarde durch das stark Dekorative ihrer Form gekennzeichnet, aber auch
durch die typisch französische Eleganz des Duktus des meist kleinen Schriftbildes.
Die so stabilisierte lettre bâtarde wurde nicht nur zur französischen Nationalschrift
für Schriftstücke in der Volkssprache, sondern sie verbreitete sich alsbald über die
Grenzen des Landes hinaus, vor allem in den Niederlanden, und auch im westlichen
Deutschland war ihr Einfluß beträchtlich. Eine gewisse Zeit lang war sie somit eine
internationale Buchschrift, was übrigens bei Schriften dieser Gruppe nichts Unge¬
wöhnliches ist (Hessel). Indem sie sich akklimatisierte, gewann die französische Ba¬
starda überall schnell einen eigenartigen Lokalcharakter und entwickelte sich unab¬
hängig weiter. Inzwischen wurde sie in Frankreich auch für die sehr kostspieligen,
reich illuminierten Handschriften verwendet, in denen die französische Buchmalerei
der Gotik vor allem durch das Verdienst Jean Fouquets und seiner Schule den Höhe¬
punkt der Meisterschaft erreichte (Tafel LXXXV). Im 15. Jahrhundert ließ man der
französischen Bastarda in den mit besonderer Pracht ausgestatteten Handschriften
außerordentliche Sorgfalt angedeihen, die vielleicht das ihr zuträgliche Maß über¬
stieg. Durch die Art ihres Duktus wurde sie allmählich zu einer formalen Schrift, und
im Bestreben, sie der Textur anzugleichen, übertrieb man ihre eckige Form. So ent-
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241. Lettre bâtarde, 14.-15. Jahrhundert.
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