KURSIVSCHRIFTEN DES GOTISCHEN TYPUS
Kursiven, die sich voneinander nur durch den Grad der kursiven oder dekorativen
Gestaltung des Duktus unterscheiden.
In der Gruppe der Kursivschriften der Gotik und des gotischen Typus sind jedoch
auch andere als die im eigentlichen Sinne kursiven Schriften, d. h. geläufige und Ur¬
kundenschriften einschließlich ihrer Druckimitationen vertreten, nämlich solche, die
in der handschriftlichen und gedruckten Buchproduktion als unechte Buchschriften
Eingang fanden und heute allgemein unter die Bezeichnung Bastarda fallen. Dieser
Schrifttypus entstand schon im 14. Jahrhundert, als die Buchproduktion neue Bedürf¬
nisse befriedigen mußte, aus mehr praktischen Beweggründen, um den Kreis der
Schriftgattungen zu ergänzen. Die formalen Buchschriften Textur und Rotunda mu߬
ten langsam und mit Bedacht geschrieben werden; sie beanspruchten zu viel Sorgfalt
und Zeit, wie man sie nur außergewöhnlichen Aufgaben zuwenden konnte. Für
die weniger exklusive Buchproduktion, die einen weitergespannten Leserkreis ansprach,
also vor allem für Literatur in den Nationalsprachen, mußte eine Schrift verwendet
werden, die ein schnelleres Abschreiben ermöglichte. Eine solche Schrift war begreifli¬
cherweise nur die Kursiv, littera cursiva textualis, die in etwas sorgfältigerer Ausführung
durch die Kopisten der Buchhandschriften wieder gewisse Merkmale einer formalen
Buchschrift - littera cursiva formata (Lieftienck) - gewann. Etwa so mögen die unechten
Buchschriften entstanden sein, die weder reine Kursiven noch reine formale Buch¬
schriften, sondern Bastarden, Mischlinge aus beiden genannten Gattungen sind. Der
Name Bastarda ist in dieser Bedeutung sehr alt und war schon am Anfang des 15.
Jahrhunderts geläufig. Die Bastarden verbreiteten sich fast überall sehr schnell und
gewannen nicht nur deshalb das Übergewicht über die formalen gotischen Buch¬
schriften, weil man sie schneller schreiben konnte, sondern auch weil sie ihres Duktus
einer geläufigen nationalen Kursiv wegen von einem breiten Leserkreis von Laien
vorgezogen wurden, denn sie erleicherten anscheinend das Lesen von Texten in der
Volkssprache.
In der Fachliteratur über die Schriften des gotischen Typus wird die Entwicklung
der nichtformalen Kursivschriften gewöhnlich von jener der formaleren Bastarden
getrennt behandelt, ebenso wie dies bei der Entwicklung der handschriftlichen gegen¬
über jener der Druckbastarden der Fall ist. Abgesehen davon, daß es manchmal sehr
schwer ist, zu bestimmen, wann die Kursiv aufhört, ein Skript zu sein, und zu einer
Bastarda wird, macht diese Methode eine häufige und überflüssige Wiederholung des
Festgestellten erforderlich, denn die Buchbastarden haben sich unmittelbar aus den
zeitgenössischen Skripten und die Druckbastarden aus handschriftlichen entwickelt.
Darum halte ich es für vorteilhafter, in der territorial gegliederten Übersicht immer
alle Hauptvarianten der nationalen Modifikationen der gotischen Kursiv auf einmal
durchzunehmen, weil die Merkmale, durch die sich die Schriften dieser Gattung
voneinander unterscheiden oder einander nähern, auf diese Weise deutlicher her¬
vortreten.
In Frankreich, der Wiege des Stils und der Schrift der Gotik, verwendeten die
Schreiber der königlichen Kanzlei zwar noch in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhun¬
derts eine späte Halbkursiv des romanisch-gotischen Übergangstypus, so wie es auch
die Schreiber der mitteleuropäischen Hofkanzleien taten, aber zu gleicher Zeit wurden
die Parlamentsprotokolle bereits mit einer verhältnismäßig hochentwickelten frühen
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LETTRE BÂTARDE
französischen gotischen Kursiv geschrieben, die eine energische senkrechte Zeichnung und
gewisse charakteristische Elemente des Duktus aufweist (Tafel LXXXIV). In ihrem
Alphabet (Abb. 239) finden wir neben der kursiven und vergrößerten Modifikation
сцуу* л fe*
tmtu/Hftwwt ft, ^гісѴиг, (Ѵіон^уѵіУѵ^ uüG>tc
öv&jßv* p^| S>v|J^c&vH3 kfpuu, pieve f\&r A(Wvc|> GÏT 240. G. Desmoulins, Bible historíale, 1368. der zweibäuchigen ß-Form auch die kursive einbäuchige vor, die in der Wortmitte Inzwischen übernahmen im 14. Jahrhundert auch die Schreiber der französischen 421
verwendet wird, die Schäfte des b, h, l sind scharf nach rechts gebogen, die des f und
des langen s werden bereits konsequent unter die Fußlinie verlängert, das d ist mit
einer Schleife abgeschlossen und das v kommt in einer interessanten und typischen
Form mit kühnem, hoch nach links oben geschwungenem Bogen und einem sich
schließenden Bauch vor. Im 14. Jahrhundert büßt die französische gotische Kursiv
die zweibäuchige ß-Form ein, ihr Duktus nimmt in den Grenzen des Möglichen go¬
tischen Charakter an, und in etwa dieser Gestalt tritt sie als frühe französische Bastarda
auch in Buchhandschriften in Erscheinung. Eine einfache französische Buchkursiv mit
breiter und fetter Schriftzeichnung, war sie jedoch nicht das einzige Resultat des
Strebens nach einer schnelleren Buchproduktion, wo entsprechende Bücher dies
zuließen.
königlichen Kanzlei den urkundlichen Prototyp dieser Schrift. Sie unterdrückten zwar
hier und dort den äußeren Kursivcharakter dieser frühen Kursiv, aber dafür stabi¬
lisierten sie ihre Zeichnung, um ihr einen gebührenden Kontrast und eckigen Duktus
zu verleihen. In gleicher Richtung verlief die Entwicklung der französischen gotischen
Kursiv auch in anderen Verwaltungskanzleien, so daß in der zweiten Hälfte des 14.
Jahrhunderts eine charakteristische nationale Kursivform vorlag, die allgemein als
LETTRE BÂTARDE bezeichnet wird. Der Name war in Frankreich schon seit Be¬
ginn des 15. Jahrhunderts geläufig, wie aus den Inventaren der Bibliothek der fran¬
zösischen Könige von 1411 und 1424 hervorgeht (Johnson), und bezog sich später