KURSIVSCHRIFTEN DES GOTISCHEN TYPUS
in den erwähnten italienischen Notarkanzleien, mußte notwendig der formale Duktus
fallengelassen werden, was die karolingische Urkundenkursiv zwar noch nicht zur
echten Kursiv machte, ihr aber einen äußerlichen Kursivcharakter verlieh. Eine jede
derartige frühe gotische Halbkursiv stellt also nur eine Übergangsform, den bloßen Ersatz
einer wirklichen Kursiv dar, deren Bedürfnis anscheinend noch nicht allgemein als
dringlich empfunden wurde. Bezeichnend für derartige Halbkursivschriften ist hin¬
gegen, daß sie im 12. Jahr hundert auch in Buchhandschriften Vorkommen (Friedrich).
Erst im Laufe des 13. Jahrhunderts, als die gotische Buchminuskel bereits ihre aus¬
geprägte Stilform herausgebildet hatte, beginnt auch die GOTISCHE KURSIV
litter a cursiva currens (Lieftienck) Gestalt anzunehmen. Seit Beginn dieses Jahrhunderts
kann man die Beobachtung machen, daß dem Bedürfnis, schneller zu schreiben, nicht
nur ein noch geläufigerer Duktus der Urkundenminuskel entgegenkam, sondern auch
das Bestreben, in einem Zug ohne Unterbrechung zu schreiben. Das kam auch hier
in der Verbindung und den Verbindungsstrichen der einzelnen isoliert - allerdings
mit Ausnahme der Ligaturen - geschriebenen Buchstaben zur Geltung. Dieses Streben
nach einem konsequent gebundenen Duktus kommt mit der Zeit auch in Zeichnung
und Konstruktion mancher Buchstaben zum Ausdruck, und durch eben diese zeichne¬
rischen, wenn auch manchmal nur geringen, aber graphisch immer bedeutsamen
Veränderungen wird die eigentliche Umwandlung der Buchminuskel zur Kursivschrift
erst realisiert und vollendet. Die Veränderungen sind zwar zunächst in der Urkunden¬
schrift verschiedener Länder und verschiedener Art nicht immer gleich weitreichend,
aber trotzdem zeigen auch die frühen Formen der gotischen Kursiv überall schon gewisse
charakteristische Buchstabenformen, von denen vor allem drei sehr wichtig und für
eine Bestimmung der gotischen Kursiv von entscheidender Bedeutung sind : die ein-
bäuchige Form des a, die neben der ursprünglichen Buchform mit gebogenem Schaft
oder zwei Bäuchen immer öfter vor kommt, und die unter die Fußlinie verlängerten
Schäfte des f und des langen s. Neben diesen so wenig und doch so kennzeichnend
abgeänderten Buchstaben unterscheiden sich zahlreiche andere auf den ersten Blick
viel augenfälliger von der Buchminuskel. In verschiedenen Alphabeten der gotischen
Kursiv, mit denen wir uns alsbald in der Übersicht ihrer verschiedenen nationalen
Modifikationen befassen werden, fällt vielmehr die Art des Abschlusses der Schäfte
beim b, h, к, l auf, die in der formalen Buchminuskel entweder scharf abgeschnitten
oder zu texturartigen Gabelungen gespalten werden; in der Kursiv pflegen sie jedoch
nach rechts gebogen oder mit einer Schleife abgeschlossen zu sein. Mit Schleifen enden
oben die Schäfte des d,f und des langen j. Auch das v wird oft, insbesondere am Anfang
der Worte, mit einer Schleife versehen, so daß es stark dem b ähnelt. Das runde s am
Wortende hat eine neue Form, die entweder an die B-Majuskel oder an das griechische
sigma erinnert. Unten mit Schleifen versehen sind oft auch die Unterlängen der Buch¬
staben j, p, q und die Endstriche des h, m und n. Die Verwendung von Abbreviaturen
ist ebenso wie für die formale Buchschrift auch für die gotische Kursiv charakteristisch,
was sich vor allem dort für die Lesbarkeit ungünstig auswirkt, wo über einem Buch¬
staben Kürzungszeichen stehen, ohne daß der Strich unterbrochen wurde, z. B. in
einer Florentiner Urkunde aus dem Jahre 1293 (Abb. 255). Das große Alphabet der
gotischen Kursiv ist sodann entweder ein vergrößertes kleines Alphabet, oder später
eine kursivere oder kalligraphische Analogie der älteren oder jüngeren Form der
gotischen Buchmajuskel.
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GOTISCHE KURSIV
Bis zum Ende des 13. Jahrhunderts verbreitete sich die neue Kursiv allgemein
unter Bedingungen, die für sie außerordentlich günstig waren. Mit der Entstehung
der ersten Universitäten und der Ausbreitung des Allgemeinschulwesens hörte die
Bildung auf, ein Privileg des geistlichen Standes zu sein, und begann auch in breitere
Laienkreise - wenigstens als Kenntnis des Lesens und Schreibens - einzudringen. Die
Möglichkeiten des schriftlichen Ausdrucks und Verkehrs behinderte nicht mehr der
hohe Preis des einzigen bis dahin verwendeten Schreibmaterials, des Pergaments, denn
mit der zunehmenden Papiererzeugung stand ein weniger kostbares und einem wei¬
teren Kreis der Bevölkerung zugängliches Material zur Verfügung. Auch die Ent¬
stehung einer Vielzahl von Kanzleien im Zusammenhang mit der wachsenden Sou¬
veränität kleiner Verwaltungseinheiten der feudalen Ordnung und mit der Entfaltung
der Stadtautonomie trug in nicht geringem Maß dazu bei, daß sich die Kursiv weiter
verbreitete und zur eigentlichen Laienschrift wurde, somit auch zur Buchschrift für
Texte in den Nationalsprachen.
Im 14. Jahrhundert, einer Zeit, da die gotische Minuskel in ihrer Hochform aus¬
kristallisierte, gedieh auch die gotische Kursiv zu ihrer Hochform eines ausgeprägten
Stiltypus der Schrift. Mit der wachsenden Vorliebe für die breit zugeschnittene Feder
wurde der Duktus der Kursiv dunkler und kontrastreicher. Die Stiltendenz zur Bre¬
chung der Bögen kann sich jedoch in der Kursiv nicht voll geltend machen, wenn
zugleich der Forderung nach maximaler Schreibgeschwindigkeit entsprochen werden
soll. Nur die immer größeren Schleifen der Oberlängen werden zu Dreieckformen
gebogen. Das d stabilisiert sich in der gotischen Unzialform mit besonders ausgeprägter
Schleife, das a kommt nur noch in seiner einbäuchigen Form vor und die Schäfte des
f und des langen s werden immer unter die Fußlinie verlängert.
Es ist ganz natürlich, daß die individuelle Handschrift jedes einzelnen Schreibers
einen außerordentlich bedeutsamen Einfluß auf die gotische Kursiv und die Reinheit
ihres Stiltypus ausübte, und aus diesem Grund kann man, soweit es sich um Urkunden
und schriftliche Dokumente privaten Charakters handelt, nicht mehr erwarten als
eine nur ganz allgemeine Stilverwandtschaft. Doch auch bei amtlichen Urkunden
wird man sich nur schwer in der Vielzahl verschiedener nationaler und lokaler Modi¬
fikationen orientieren, und es ginge über unsere Kräfte und über das abgesteckte
Programm unseres Studiums hinaus, wenn wir das in vollem Umfang versuchen woll¬
ten. Dessenungeachtet hatte man in jedem nationalen Kulturbezirk ein bestimmtes
Ideal der schönen Schrift vor Augen, ebenso wie ihrer kursiven Manuskriptformen,
und diese Tatsache liefert uns eine verhältnismäßig verläßliche Plattform zur Klassi¬
fizierung der folgenden Territorialübersicht der Kursivschriften des gotischen Typus.
Als Quelle für Musterbeispiele möge uns hier eine Auswahl besserer Amtsurkunden
dienen, aber nach der Mitte des 15. Jahrhunderts werden es vor allem Vorlagen von
der Hand professioneller Kalligraphen und Kursivschriften in ihren Druckvarianten
und -imitationen sein, auf die wir uns in unserer Übersicht stützen werden. Den in
älterer Zeit zusammenfassend als notula bezeichneten Urkundenschriften widmeten
die Meister der Kalligraphie begreiflicherweise die größte Aufmerksamkeit, und auch
Johann von Hagen zeigt in dem uns bereits bekannten Werbeflugblatt aus der ersten
Hälfte des 15. Jahrhunderts unter insgesamt zwölf Beispielen von Musterschriften
sieben verschiedene Urkundenschriften, die er notula simplex, notula fracturarum u. ä.
nennt. Es handelt sich insgesamt um senkrechte und bereits völlig ausgereifte gotische
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