GOTISCHE BUCHMINUSKEL
prinzipiell durch die Zusammensetzung ihres Alphabets (Abb. 238), ein kurioses Ge¬
misch von Minuskel- und Majuskelformen. Während z. B. das r hier in Übereinstim¬
mung mit dem zweilinigen Majuskelsystem in seiner Majuskelform vertreten ist, wird
die Minuskelform des e, das mit seinem miniaturhaft kleinen, an den überlangen
Schaft angehängten Bauch grotesk wirkt, denselben umgrenzenden Linien einge¬
schrieben. Das a zeigt die formale Buchform mit zwei Bäuchen, und diese Zugehörig¬
keit zur gotischen Buchminuskel bestätigt auch das / und das lange j, die beide auf
der Fußlinie enden. Die Schäfte werden nur ganz wenig über die obere und unter die
untere Grenzlinie verlängert, ausgenommen beim d und dem langen s, die mit dem
oberen, in der Regel dekorativen Teil ihrer Zeichnung gewöhnlich weit über die ge¬
meinsame Schrifthöhe hinausreichen. Dieser bemerkenswerten, gotisch überspitzten
Schrift begegnen wir in den Überschriftzeilen der Hofurkunden schon seit dem 13.
Jahrhundert und auch in den böhmischen königlichen Urkunden, wie z. B. im Diplom
Premysls I. und im Majestätsbrief Pfemysl Ottokars II. aus den Jahren 1221 und 1268
in unserer Auswahl von Beispielen schöner Schreibkunst (Tafeln LXXXIII, XCVII).
Besonders häufig sind sie jedoch in den päpstlichen Bullen des 15. und 16. Jahrhun¬
derts, zu einer Zeit demnach, als der Widerstand der Renaissance gegen alles Gotische
in Italien bereits seinen Triumph feierte.
Л ’ < ✓ y\s 238. Gotische Gitterschrift, 12.-13. Jahrhundert. 415