GOTISCHE BUCHMINUSKEL
(‘Nálezy práv zemskÿch’). Als Auszeichnungsschrift blieb die Rotunda in Böhmen
bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts in Gebrauch. So setzte beispielsweise Ondrej
Dusik in Litomërice noch 1542 Überschriften und Titel in Rotunda. Noch länger
hielt man in Polen an der Rotunda fest. Dort hatte sie Kasper Hochfeder im Jahre
1503 eingeführt, worauf sie sich weithin verbreitet hatte. Noch 1546 druckte Maciej
Scharffenberger Gebetbücher in Rotunda.
Die kalligraphischen Mustersammlungen widmen der Rotunda seit Beginn des 16.
Jahrhunderts gebührende Aufmerksamkeit, und dieses Interesse blieb mancherorts
auch im 17. Jahrhundert lebendig. Sogar aus der ersten Hälfte des 18. sind vereinzelte
Beweise dafür vorhanden, daß dieses Interesse der Kalligraphen für die Rotunda noch
nicht ganz erloschen war. Natürlich handelt es sich in erster Linie um italienische
Schrifthandbücher, in denen die kalligraphische Rotunda erwähnt wurde, dessenunge¬
achtet wird ihr aber in vielen keine so starke Aufmerksamkeit geschenkt und kein
solcher Platz eingeräumt, wie er ihrer Bedeutung im italienischen Schreibwesen ent¬
spräche. Die Rotunda war eine ausgesprochene Buchschrift, die kalligraphischen Va¬
riationen keine allzugroßen Möglichkeiten bot, weshalb sie oft, z. B. in Palatinos
Sammlung Libro nel qual s’insegna a scrivere aus dem Jahre 1546 oder in Taglientes
Buch Lo presente libro etc., Ausgabe von 1550, mit einem kleinen Beispiel und einem
typographischen Alphabet abgetan wird. Ein andermal wieder, und dies schon sehr
früh, werden Versuche einer geometrischen Konstruktion der Rotunda vorgeführt,
wie es bereits 1514 Sigismondo da Fanti in seinem Buch Theorica et practica etc. mit
der Gründlichkeit eines Mathematikprofessors getan hatte. Seine konstruierte Rotunda,
die lettera fermata, wie er sie selbst bezeichnet, ist zwar eine schöne Schrift und der
Versuch ihrer Konstruktion sicherlich ein Erfolg, aber über die Zweckmäßigkeit seiner
Konstruktion können trotzdem berechtigte Zweifel herrschen, weil es wohl kaum
jemand nötig hatte, auf diese hochgelehrte und komplizierte Weise eine schreibtech¬
nisch so leichte Schrift wie eben die Rotunda schreiben zu lernen. Besagte konstrukti¬
vistische Manie, mit der wir uns im Zusammenhang mit der Entwicklung eigener
Renaissanceschriften noch erneut und eingehender zu befassen haben werden, war
ein allgemeines Zeitmerkmal, und darum nimmt es nicht wunder, daß man auch
der Rotunda mit Lineal und Zirkel beizukommen bestrebt war. Dieser Forderung der
Zeit kam auch die Sammlung Opera di Frate Vespasiano Amphiareo aus dem Jahre
1554 entgegen, aber die Konstruktion dieses Vespasianischen Alphabets (Abb. 233,
234) ist verhältnismäßig einfacher gehalten, wenn auch immer noch viel zu kompli¬
ziert, als daß sie mehr wäre als eines von vielen weiteren Dokumenten der allgemeinen
Vorliebe dieser Zeit. Denselben Dienst leistete sicher auch die nichtkonstruierte Ro¬
tunda von vollendet schreibgerechter Form, und auch diese findet sich in Publika¬
tionen dieser Art nicht allzu selten. Eine schöne derartige Rotunda mit zugehörigem
Majuskelalphabet zeigt beispielsweise sowohl der deutsche Kalligraph Wolfgang Fug¬
ger in seiner Sammlung aus dem Jahre 1553 (Abb. 237), als auch der Italiener Gio¬
vanni Francesco Cresci in seinem Handbuch II perfetto scrittore aus dem Jahre 1570.
Doch den Höhepunkt der Rotunda-Kalligraphie stellt zweifellos das Schaffen der
spanischen Schriftmeister dar, von denen insbesondere Juan de Yciar sich mit seinen
schönen kalligraphischen Musterbüchern einen Namen gemacht hatte. Yciar führt
die Rotunda, diese zu einer Nationalschrift gewordene spanische Buchschrift, in zahl¬
reichen vollendeten und graphisch ausgezeichnet behandelten Mustern vor, von denen
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235, 236. Kalligraphische Rotunda. Juan de Yciar, 1548.
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