GOTISCHE BUCHMINUSKEL
in ihren Sammlungen der Propagierung ihrer Hoch- und Ornamentalformen be¬
kanntlich sehr viel Raum gaben. So wie die italienischen Künstler zwar den gotischen
Stil übernahmen, ihn aber schöpferisch selbständig abwandelten und dem Geist ihrer
Heimat anpaßten, gedieh auch die gotische Schrift in den Händen italienischer Schrei¬
ber nie zu den nördlichen Kennzeichen des Gotischen, zum stachelspitzigen, engen
und vertikalen Duktus, sondern ihre Schriftzeichnung rundete und verbreiterte sich
auf ganz ungotische Weise. Die Anfänge dieser Entwicklung datiert Hessel schon ins
13. Jahrhundert, aber erst im 14. konnte sich die Rotunda durchsetzen und zumindest in
gewissen Gattungen der italienischen Handschriften zur geläufig verwendeten Schrift
werden. Aus dem Beispiel einer solchen italienischen Handschrift (Tafel LXXX) geht
vor allem hervor, daß die Rotunda im Ganzen der Buchseite nicht weniger dekorativ
wirkt als die Textur, obwohl sich hier ganz andere zeichnerische Elemente geltend
machen. Etwas hat die Rotunda aber dennoch mit der Textur gemeinsam: vor allem
die ebenso fette Zeichnung und die genauso kurz verlängerten Schäfte der Buchstaben
b, h, /, p, q. Doch sie unterscheidet sich diametral von der Textur durch die breiten
Proportionen ihres Schriftbildes und die gemäßigte Brechung der Bögen, die nur
bei einigen wenigen Buchstaben ihres Alphabets konsequent eingehalten ist (Abb. 226).
Am eckigsten ist gewöhnlich der untere Bauch des a, das übrigens auf Grund seiner
zweibäuchigen Form der typischste und zur Bestimmung dieser Schrift entscheidende
Buchstabe ist, wobei der obere, mit einer harfeienen Bogenlinie gezogene Bauch stets
größer ist als der untere und seine Umrisse stark nach unten gedrückt werden. Die
Rundbuchstaben b, d, h, 0, p, q und s sind entweder überhaupt nicht oder nur gering¬
fügig in den Bogen gebrochen. Ausgeprägter ist manchmal nur die Brechung der
oberen Bogenteile des c, e und der Gesamtzeichnung des g. Die Schäfte werden auf
der Fußlinie entweder gerade oder durch eine einfache Biegung oder - und das ziem¬
lich selten - durch einfache Brechung abgeschlossen. Die verschiedene Art des Ab¬
schlusses der Schäfte wird bei einzelnen Buchstaben beibehalten, z. B. beim m, wo
die ersten beiden Schäfte unten gerade abgeschnitten sind, während der letzte nach
rechts gebogen ist. Das trägt zur Differenzierung der einzelnen Buchstaben bei, wes¬
halb die Rotunda, abgesehen von weiteren Vorzügen, unverhältnismäßig besser lesbar
ist als die Textur. Stets oben abgeschnitten werden die Schäfte der Buchstaben b, d, l,
unten sodann die des p und q. Im 15. Jahrhundert kommt neben der oft stark horizon-
talisierten Unzialform des d die altneue der karolingischen Minuskel vor. Auch die
Rotunda ist reich an Ligaturen, obschon diese in den Handschriften nie so konsequent
verwendet werden wie bei der Textur. Dagegen kommt es hier oft zur Verschmelzung
aller Buchstaben eines Wortes, wie in der interessanten Ligatur hoc in der 14. Zeile
unseres Textbeispiels. Im ganzen überwiegt in der Rotunda eine ausgeprägt italie¬
nische Ausgeglichenheit aller Kompositionselemente, also dieselbe Eigenschaft, die
die italienische Architektur der Gotik gegenüber der gotischen Baukunst der nördli¬
chen Teile Europas kennzeichnet.
Die Morphologie der Rotunda ist verhältnismäßig wenig umfangreich und kompli¬
ziert, denn ihr Duktus hat sich im Lauf der Entwicklung nie zu graphisch so bedeut¬
samen Varianten der Zeichnung verzweigt, wie wir sie bei der Textur feststellen
konnten. Dessenungeachtet sind die mit der Rotunda geschriebenen Handschriften
ebenso oft vom Ideal des formalen Prototyps entfernt, dem wir in der geläufigen
Schreibpraxis nur selten begegnen. Das verhielt sich so vor allem in Italien, wo der
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ROTUNDA
Rotunda fast schon zur Zeit ihrer Entstehung in den frühen Anfängen der Renaissance
in neuen Schriften heimischer Herkunft gefährliche Rivalen erwuchsen; auch im 15.
Jahrhundert, in der Zeit ihres größten Aufschwungs, verteidigte sie nur mit Mühe
ihre Vorrangstellung. Einige Handschriften schon aus der Mitte dieses Jahrhunderts
lassen außerdem bereits einen gewissen Verfall der Rotunda erkennen, die durch ihr
wesensfremde Kursivelemente verunreinigt ist. Beispielsweise kommt neben dem ty¬
pischen zweibäuchigen a gleichzeitig ohne eine erkennbare Regel oder Begründung
in derselben Handschrift auch eine einbäuchige Kursivform vor. Außer kursiven Ele¬
menten übten auf die Zeichnung der Rotunda natürlich sehr oft auch Einflüsse der
neuen zeitgenössischen humanistischen Minuskel ihre Wirkung aus, so daß eine ge¬
mischte Schrift entstand, die man kaum noch in die Gruppe der Rotundaschriften
einordnen kann.
Die Rotunda hatte in Italien schon früh dieselbe Funktion wie die Textur in den
nördlichen Gebieten Europas. Sie war gleichfalls vor allem eine Schrift der lateini¬
schen liturgischen Bücher und gewisser juristischer Abhandlungen, obwohl auch die
lateinischen Klassiker manchmal in Rotunda abgeschrieben wurden. Doch es ist na¬
türlich, daß der schreibmäßigen Behandlung der Rotunda besonders in den kost¬
spieligen liturgischen Kodizes eine außerordentliche Sorgfalt gewidmet wurde, wes¬
halb wir ihre schönsten Beispiele ebenjenen Quellen entnehmen können. Eine solche
beispielhafte Rotunda ist u. a. die Schrift des Avignoner Missale des Papstes Klemens
VII. aus dem 14. Jahrhundert (Tafel LXXX) und schließlich auch des sehr späten,
mit groß dimensionierten Buchstaben geschriebenen Missale des Kardinals Francesco
Cornaro in der Bibliothek della Minerva in Rom, das aus dem Jahre 1538 stammt
(Tafel LXXXI). Außerhalb Italiens faßte die handschriftliche Rotunda für eine Zeit¬
lang nur in Südfrankreich und für längere Zeit in Spanien Fuß, dessen Schrifttum
gleichfalls sehr schöne Beispiele einer Verwendung dieser Schrift enthält. Auch in
verschiedenen böhmischen Bibliotheken finden sich schöne, mit einer kalligraphischen
Rotunda geschriebene Handschriften, wie z. B. der prachtvolle Liturgische Kodex
der Franziskanerbibliothek in Uherské Hradistë aus dem 15. Jahrhundert (Tafel
LXXXII), der heute in der Universitätsbibliothek zu Olmütz verwahrt wird. Zwei¬
fellos italienischer Herkunft, ist diese reizvoll illuminierte Handschrift durch eine nicht
weniger vollendete, schwere und feierliche Rotunda großer Dimensionen gekenn¬
zeichnet, die mit ihrem ausgewogenen, wahrhaft klassischen Duktus als vorbildlich
gelten muß. In unserem Beispiel aus diesem Franziskanerkodex ist auch eine andere,
weniger fette Variante der Rotunda in der 5. Zeile bemerkenswert. Sie beweist, daß
die Rotunda auch bei verhältnismäßig schwacher Zeichnung ihre Vorzüge hat. Ob¬
wohl sie ihre voll entfaltete Schönheit vor allem in ihrer fetten und breiten kalligra¬
phischen Form zur Geltung bringt, ist sie in ihren weniger fetten und schmäleren
Varianten besser lesbar, auch bei kleineren Ausmaßen, welcher Umstand für die
Drucker allerdings von entscheidender Bedeutung war, als sie sich für die Rotunda
als Schrift für den Satz ihrer Bücher entschlossen.
Als Druckschrift wurde die Rotunda schon in den eigentlichen Anfängen des italie¬
nischen Buchdrucks verwendet, und laut Konrad Haebler (Die italienischen Frag¬
mente vom Leiden Christi, das älteste Druckwerk Italiens, 1927) war sie die Schrift
des ältesten bekannten italienischen Drucks überhaupt, den ein unbekannter Drucker
wahrscheinlich kurz nach 1462 in Norditalien gesetzt hatte. Die Verwendung der
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