DIE VORGESCHICHTE DER LATEINSCHRIFT
tische Schrift, anderseits die protoelamische und schließlich auch die protoindische
Schrift entwickelt. Der Keilschrift bediente sich bis zum Beginn unserer Zeitrechnung
die überwältigende Mehrzahl der Völker Vorderasiens : die Babylonier, Assyrer, Chur-
riter, Hethiter und Kanaanäer; Varianten kamen in Urartu, dem heutigen Armenien,
zur Anwendung, und auch die Perser verwendeten eine vervollkommnete Keilschrift
heimischen Ursprungs. Es handelte sich insgesamt um Silbenschriften, die es, wie wir
wissen, zu einem konsequenten phonetischen Alphabet nicht mehr weit hatten. Diese
Phonetisierung der Keilschriften schritt jedoch nur langsam voran, so daß beispiels¬
weise die altpersische Silben-Keilschrift vom Ausgang des 6. Jahrhunderts v. Chr. nur
einige wenige Zeichen enthielt, die die phonetische Qualität einzelner Laute Wieder¬
gaben. Trotzdem hat es schon lange vorher, fast tausend Jahre früher, bereits eine
unter den Keilschriften vereinzelt dastehende konsequent alphabetisch-phonetische
Schrift gegeben: die Keilschrift der archäologischen Funde von Ras Schamra, dem
alten Ugarit. Diese ugaritische Keilschrift der etwa aus der Mitte des 2. Jahrtausends
stammenden und 1929 von Cl. Schaeffer und G. Chenet entdeckten Inschriften rief
in den entsprechenden Wissenschaftsfächern stärkste Aufmerksamkeit hervor, insbe¬
sondere der sensationellen Schnelligkeit wegen, mit der sie bereits ein Jahr darauf
entziffert wurde, und das selbständig und gleichzeitig durch drei verschiedene For¬
scher. Als erster veröffentlichte Hans Bauer im August 1930 seine Lösung des Pro¬
blems : nach ihm sodann schon im September E. Dhorme und unmittelbar darauf im
Oktober Ch. Virolleaud. Alle drei genannten Forscher stellten fest, daß die Schrift
dieser ugaritischen Inschriften, die in der älteren Form einer bis dahin nicht unter¬
schiedenen nordwestsemitischen und dem Phönikischen verwandten Sprache abgefaßt
waren, ein bereits fast vollendet phonetisches Alphabet aufwies. Aus dieser Tatsache
zogen sie dann verschiedene Schlüsse über die Herkunft der ugaritischen Schrift.
Heute überwiegt die Ansicht, daß das ugaritische Alphabet durch die bloße Über¬
tragung des Konsonantenprinzips des gleichzeitigen nordsemitischen Alphabets in die
Technik der Keilschrift zustandekam. Diese Vermutung wurde durch weitere Funde
in Ugarit aus den Jahren 1948-1955, insbesondere die Entdeckung einiger Tontafeln
mit dem vollständigen Alphabet etwa aus dem 14. Jahrhundert v. Chr. bestätigt.
Besonders bemerkenswert an diesen ältesten Buchstabenverzeichnissen der Welt über¬
haupt ist die Tatsache, daß sie 22 phonetische Zeichen des nordsemitischen Konso¬
nantenalphabets in der traditionellen Reihenfolge enthalten und dazu noch am Ende
des Alphabets 8 weitere, hinzugefügte Zeichen (Abb. 3). Die letzteren stellen z. T.
Laute vor, die in der späteren Entwicklung der nordsemitischen Sprache nicht mehr
unterschieden wurden, aber weiterhin im südsemitischen Alphabet vorkamen. Daraus
wird auf ein älteres gemeinsames Vorbild geschlossen, das protosemi tische Alphabet.
Wie wir sehen, ist die ugaritische alphabetische Keilschrift historisch von großer Be¬
deutung, weshalb wir uns mit ihr später noch zu befassen haben werden, zugleich
mit der Frage eines möglichen Einflusses der Keilschriften auf die Entwicklung des
Prototyps unseres Alphabets.
Die Bedeutung der Keilschriften ist demnach für die Geschichte der Schrift außer¬
ordentlich groß, denn sie führen uns deren Entwicklung aus der ältesten Schrift in
der Geschichte der Menschheit überhaupt vor Augen und haben mit ihrem inneren
System die Festhaltung jedes beliebigen Gedankens möglich gemacht. So wurden sie
ein Instrument des Fortschritts zu einer Kultur und Zivilisation hohen Rangs, und das
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i. Sumerische Piktogramme, um 3500-3000 v. Chr.
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2. Babylonische Silben-Keilschrift, urn 2300-2500 v. Chr.
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3. Ugaritisches Keilschriftalphabet, um die Mitte des 2. Jahrtausends v. Chr.
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