GOTISCHE BUCHMINUSKEL
führten Titelseiten Albrecht Dürers, von denen wenigstens jene der Werke Die heim¬
lich Offenbarung Johannis aus dem Jahre 1498 (Abb. 220) und Apocalypsis cum
figuris von 1511 als meisterhafte Beispiele des spätgotischen Schriftschaffens hervor¬
gehoben seien. Eine dornspitzige Textur derselben Gattung war überhaupt in den
Holzschnitt-Buchtitelseiten vieler deutscher, vor allem Nürnbergischer Drucker der
ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts die Regel, und in der Produktion dieser Drucker
stellen wir sehr oft nicht minder schöne Ergebnisse fest. Es ist ganz natürlich, daß auch
die deutschen Kalligraphen, wie Urban Wyss in seiner Zürcher Sammlung Ein neuw
Fundamentbuch aus dem Jahre 1562 (Abb. 221), Musterbeispiele dieser formal so
weitgehenden dornspitzigen Variante der Textur vorführten, aber wir sind überrascht,
daß auch die italienischen Kalligraphen nicht zögerten, die ihrem ästhetischen Empfin¬
den so fremde Schrift in ihre Sammlungen einzureihen. Das tat nicht nur Palatino in
seinem Libro nel qual s’insegna a scrivere der Ausgabe von 1546, sondern auch Ludo¬
vico Vicentino in seiner Sammlung Essemplario de scrittori il quale insegna a scrivere,
in deren römischer Ausgabe aus dem Jahre 1557. Noch mehr überrascht jedoch bei
der dornspitzigen Textur die Tatsache, daß es den Italienern der Mühe wert schien,
nach den geometrischen Gesetzen ihrer zeichnerischen Struktur zu forschen, wie es
z. B. die konstruierte lettera Gallica des Mathematikprofessors Sigismondo da Fanti
in der venezianischen Ausgabe seiner kleinen Abhandlung Theorica et practica etc.
aus dem Jahre 1514 oder noch besser ihre außerordentlich komplizierte Konstruktion
aus zahllosen Kreislinien in G. A.Taglientes Büchlein Lo presente libro insegna la vera
arte de lo excelente scrivere (die Ausgabe aus dem Jahre 1546) beweist (Abb. 222).
Die umfassende Übersicht aller schon bisher so zahlreichen formalen Modifika¬
tionen der Textur sei nicht abgeschlossen, ohne daß wir wenigstens noch die orna¬
mentale Textur erwähnen. Obwohl das Dekorative der Textur in den bereits genannten
Formen ohne Zweifel bedeutend ist, können wir dennoch in den kalligraphischen
Sammelbänden schon von Anfang an weitere außerordentlich mannigfaltige Ab¬
wandlungen feststellen, die als ausgesprochen ornamental zu qualifizieren sind. Der¬
artigen auf verschiedene Weise ornamentierten Texturen begegnen wir besonders oft
in deutschen Schrifthandbüchern, aber seltsamerweise widmeten auch die italienischen
Kalligraphen des 16. Jahrhunderts der Textur in dieser Hinsicht mehr Aufmerksam¬
keit, als man nach den sehr bescheidenen Beispielen ihrer Anwendung in italienischen
Schriftdenkmälern erwarten könnte. So führt beispielsweise Vespasiano Amphiareo
in der Ausgabe seines Buches Opera nella quale si insegna a scrivere aus dem Jahre
1554 einige Beispiele an, in denen die lettera francese ornamental ungemein erfinderisch
wiedergegeben ist (Abb. 224). Vielleicht am meisten überrascht jedoch die Phantasie,
mit der in der erwähnten Sammlung Essemplario des römischen Kalligraphen Lu¬
dovico Vicentino die Schriftzeichnung der Textur aus den Schlingen eines zerschnit¬
tenen Bandes zusammengesetzt wird (Abb. 223). Da dieses Buch erst 1557 heraus¬
gegeben wurde, also unzweifelhaft nach Vicentinos Tod, und aus dessen älteren
Schrifthandbüchern zusammengesetzt und neu ergänzt ist, kann man den Ursprung
dieser Bandtextur um einige Jahrzehnte zurückdatieren, vielleicht bis 1523. Doch
auch damals war diese Textur mit der Art ihrer Ornamentierung nicht ganz neu. Wir
besitzen Beweise einer Existenz solcher Schriften aus viel älterer Zeit, sie kommen
auf Bildern und gemalten oder gemeißelten Inschriften des 15. und sogar des 14. Jahr¬
hunderts vor. Mehrere so ausgeführte Texturbuchstaben finden sich z. B. in einer
З92
1
v:
мгѵі
зг t «sa ь в
222. Konstruierte dornspitzige Textur. G. A. Tagliente, 1546.
393