220. Dornspitzige Holzschnittextur. A. Dürer, 1498.
221. Kalligraphische dornspitzige Textur. Urban Wyss, 1562.
TEXTUR
als Beweis ihrer schreiberischen Vielseitigkeit und professionellen Fertigkeit, sondern
auch als willkommene Grundlage für weitere formale Variationen. Darum fehlte die
Textur in keinem Renaissancewerk über die Schrift, und darum vergaß auch Albrecht
Dürer nicht, in sein z. T. Schriftangelegenheiten behandelndes Buch Underweyssung
etc. aus dem Jahre 1525 ein schönes Beispiel eines Quadrattexturalphabets großer
Dimensionen (Abb. 217) und eine kleinere Textur von gleicher Form, aber ergänzt
durch ein Alphabet schöner, maßvoll dekorativer Majuskeln einzureihen (Abb. 197).
Sehr oft plagte die Autoren der Sammlungen von Schriftvorlagen das Problem, wie
diese schwierige Schrift am besten zu unterrichten wäre, und es ist selbstverständlich,
daß die Methoden verschiedener Autoritäten in dieser Hinsicht voneinander abwi¬
chen, und dies manchmal durchaus prinzipiell. Am meisten propagiert wurde die
reine Schreibmethode, so wie sie beispielsweise Wolfgang Fugger in seinem Handbuch
aus dem Jahre 1553 vorführt, indem er die einzelnen Buchstaben auf ihre feinsten
Details und Elemente der Schriftzeichnung und auf die Phasen des Schreibvorgangs
hin analysiert. Doch lange vorher zeigt Albrecht Dürer in seinem eben erwähnten
Werk aus dem Jahre 1525 einen anderen Weg zur vollkommenen Quadrattextur auf,
die Methode ihrer geometrischen Konstruktion. Dürers konstruierte Quadrattextur ist
somit schon der allgemeinen Tendenz des Schriftschaffens der Renaissance tribut¬
pflichtig, eines Schaffens, das sich zielbewußt von der Schreibtradition der mittel¬
alterlichen Kodizes löste; wir werden noch Gelegenheit haben, festzustellen, inwiefern
diese Tendenz bei der Gesamtorientierung der weiteren Entwicklung der Lateinschrift
zum Ausdruck kam. Grundelement der Dürerschen Konstruktion ist das Quadrat,
und aus Quadraten und Quadratabschnitten setzt sich fast das gesamte Alphabet
seiner Textur (Abb. 218), die beispielhaft und im eigentlichen Sinne des Wortes
‘quadratisch’ ist, zusammen.
Die Loslösung von handschriftlichen Vorbildern, von der Nachahmung der Schreib¬
technik der Klosterskriptorien, machte sich schon in den siebziger Jahren des 15. Jahr¬
hunderts auch im Schnitt der Drucktextur bemerkbar. Hier ist bereits erwähnt wor¬
den, daß die Scheitel der auf die Spitze gestellten Quadrate der doppelt gebrochenen
Textur allmählich zu äußerst scharfen Spitzen wurden, aber in den Buchhandschriften
werden wir einer solchen Textur kaum begegnen, weil sie eine schreibtechnisch außer¬
ordentlich schwierige Form darstellte. Diese Schreibschwierigkeiten waren allerdings
kein Hindernis für die Schneider der Drucklettern, die in angemessener Zeit jede
beliebige Form in Stahl ziselieren konnten, und darum ist die dornspitzige Textur vor
allem eine Schrift der Drucker, und natürlich auch der Autoren kalligraphischer, im
Holzschnitt reproduzierter Sammlungen. Eine solche Textur ist beispielsweise die ver¬
hältnismäßig lichte, aber sehr spitzige Schrift des Werkes Johannis de Turrecremata
Meditationes, das 1479 von Johann Numeister in Mainz gedruckt wurde. Wie ihr
Alphabet erkennen läßt (Abb. 219), hat diese Schrift nichts Schreibmäßiges mehr, und
das wird um so deutlicher, je meisterhafter die Arbeit des Schneiders und des Schrift¬
gießers ist. Doch weit mehr und besser als im Text kam die dornspitzige Textur nicht
nur in den deutschen, sondern merkwürdigerweise auch in italienischen Holzschnitt-
Titelseiten von Büchern der Renaissance zur Geltung, beispielsweise der graphisch
hervorragend gelösten des Werkes Jac. Ph. Bergomensis De pluribus claris etc., das
Laurentius de Rubeis de Valentia schon im Jahre 1497 in Ferrara druckte. Insbe¬
sondere und mit Recht gerühmt werden in dieser Hinsicht die in Holzschnitt ausge-
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