GOTISCHE BUCHMINUSKEL
Im 16. Jahrhundert schwindet die Textur allmählich aus den Büchern und In¬
schriften, aber um so hartnäckiger hielten die Kalligraphen, denen wir in Zukunft
eine immer größere Aufmerksamkeit widmen werden, an ihr fest. Es ist sicher be¬
merkenswert, daß die Erfindung des Buchdrucks nicht den augenblicklichen Unter-
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216. Inschriftentextur. Prag, um 1386-1333.
gang der Schreibkunst bedeutete. Die Schreiber wurden zwar sehr schnell von der
Beteiligung an der Buchproduktion ausgeschlossen, aber die wachsende Zahl der Kanz¬
leien, der zunehmende Bedarf an schriftlichem Verkehr und die um sich greifende
Schulerziehung schufen im Gegenteil überraschend günstige Voraussetzungen für eine
neue Blüte der Kalligraphie auf einem neuen Tätigkeitsfeld. Die ehemaligen Kopisten
handschriftlicher Kodizes verwandelten sich in Kalligraphielehrer, die Sammlungen
von Beispielen ihrer Kunst als Lehrbehelfe herausgaben. Solche kalligraphische Samm¬
lungen und Handbücher erschienen seit Beginn des 16. Jahrhunderts in steigender
Anzahl, um bis 1800 etwa die Summe von 800 zu erreichen. Der Ehrgeiz der Kalli¬
graphen beschränkte sich nicht nur auf Musterbeispiele zeitgenössischer Lokalformen,
sondern sie waren bestrebt, eine größtmögliche Zahl von Schriften verschiedener Epo¬
chen und Gegenden Europas wiederzugeben, und im Anhang fügten sie oft ihre
eigenen Varianten hinzu, die sie mit den verschiedensten Bezeichnungen versahen.
Solcher oft nur wenig voneinander abweichender Schriftformen konnten bei ein und
demselben Kalligraphen außerordentlich viele sein. So soll Leonhard Wagner, ein
Mönch des St.-Afra-Klosters in Augsburg, über 70 verschiedene Schriftarten, eine
heute kaum vorstellbare Menge, geschrieben haben. Obwohl die anderen Schrift¬
sammlungen der Renaissance gewöhnlich nicht so umfangreich sind, pflegt die Textur
darin ausgiebig vertreten zu sein, denn sie diente ihren Autoren noch lange nicht nur
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217. Kalligraphische Textur. A. Dürer, 1523.
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