GOTISCHE BUCHMINUSKEL
schöne Textur dieser Art besaß beispielsweise Wolfgang Hopyl im Jahre 1514, und
diese Schrift mit ihrem charakteristischen und glücklich ausgewogenen Ensemble der
Minuskeln und Versalien wurde zum Standardmuster für die Erzeugung von Schriften
dieses Typus auch in den folgenden Jahrhunderten (Abb. 212). Wir begegnen ihr im
18. Jahrhundert auch in England wieder, wo William Caslon um 1733 eine so getreue
Replik dieser Textur herstellte, daß sie praktisch von der Schrift Wolfgang Hopyls
aus dem Jahre 1514 nicht zu unterscheiden ist. Sie hat nicht nur eine völlig gleiche
Zeichnung der Versalien, sondern auch dieselben charakteristischen Zeichen im kleinen
Alphabet, z. B. das g mit rechts ausbiegendem unterem Bauch. Obwohl im Pariser
Buchdruck am Anfang des 16. Jahrhunderts eine so schöne Textur in Erscheinung
trat, übte sie keinerlei Einfluß aus und trug auch nicht zur Verbreitung der Druck¬
textur in Frankreich im Satz anderer als lateinischer Texte bei (Hessel). Sie konnte
sich darum nur bis ins zweite Viertel des 16. Jahrhunderts halten, um danach mit
den übrigen gotischen Schriften durch die Druckschriften des Renaissancetypus für
immer aus Frankreich verdrängt zu werden.
Von größerer Bedeutung als in Frankreich war die Drucktextur in den Nieder¬
landen. Sie fand in den handschriftlichen Formen, Plattendrucken und Blockbüchern,
die von hier in die übrigen Länder Westeuropas ausgeführt wurden, einen gut vor¬
bereiteten Boden vor. Unter der Bezeichnung Nederlandtsche textur führten die nieder¬
ländischen Kalligraphen ihre heimische Texturform noch lange bis in den Barock,
sei es z. B. Peret mit seiner Sammlung Eximiae Peritiae Alphabetum, die er 1571 in
Antwerpen herausgab, oder Roelands und sein Magazin der Penn-Gonst, das 1611
in Vlissingen erschien, die Amsterdamer Sammlung Exemplaren van Gheschriften,
herausgegeben von Boissens im gleichen Jahre, Maria Strick und ihre Rotterdamer
Sammlung Schat van Geschriften aus dem Jahre 1618, Carpen tiers Alphabetum, er¬
schienen 1620, oder die berühmten Sammelbände des Jan van den Velde. Auch Lau¬
rents Janszoon Coster, der hervorragendste Rivale Gutenbergs im Anspruch auf die
Priorität der Erfindung des Buchdrucks, setzte, sofern die ihm zugeschriebenen Drucke
überhaupt sein Werk sind, in einer zeichnerisch wie technisch allerdings weitgehend
primitiven Textur. Im übrigen hatte der Duktus der niederländischen Textur zeich¬
nerisch einen gewissermaßen heimischen Charakter, und diese Schrift war so beliebt,
daß sie zur Hauptschrift aller Bücher und Schriftstücke ohne Unterschied der Sprache
oder des Inhalts wurde (Hessel). Ihre verschiedenen Varianten, die sich in den ein¬
zelnen Landstrichen der Niederlande entwickelten, wurden am Ausgang des 15. Jahr¬
hunderts durch eine typisch niederländische Form der Textur mit M75 von Haeblers
Typenrepertorium ersetzt, die unter dem Namen Lettersnijder bekannt ist. Mit dieser
Textur druckten die Brüder das gemeinscháftlichen Lebens in Gouda schon in den
neunziger Jahren des 15. Jahrhunderts. Vor 1500 wurde sie auch in Köln a. R. ver¬
wendet und ihre weiteren Versionen leisteten dem Ansturm der Schriften des Renais¬
sancetypus in den Niederlanden hartnäckig Widerstand. Diese heimische niederlän¬
dische Textur hatte Henrik Lettersnijder aus Delft vor 1490 verfertigt und ihre Ma¬
trizen haben sich bis heute im Besitz der altehrwürdigen Schriftgießerei Enschedé in
Haarlem erhalten, zusammen mit den Matrizen einer anderen schönen Textur, die
dem Cornelius Henriczoon zugeschrieben wird, offenbar einem Sohn des Henrik Let¬
tersnijder. Es handelt sich vermutlich um die ältesten erhaltenen Matrizen einer
Druckschrift überhaupt. Eine Textur ähnlichen Schnitts besaß auch Plantin, und alle
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TEXTUR
bedeutenden niederländischen Schriftschneider der folgenden Jahrhunderte, Christof¬
fel van Dyck, Rosart und auch Fleischmann brachten weitere, mehr oder minder von
ihrer Zeit beeinflußte Repliken unter der Bezeichnung Flamand und Duits hervor.
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213. Tretyse of Love. W. Caxton, um 1493.
Nicht minder beliebt war die Drucktextur in England, wo man sie black-letter nannte
und bis heute nennt. Die Hälfte des Schriftmaterials William Caxtons, des ersten
englischen Druckers, bestand aus Texturen, von denen eine für den Satz eines einzigen
Wortes im ältesten bekannten englischen Druck, einem Ablaßblatt aus dem Jahre
1476, verwendet wurde. Die Texturen Caxtons blieben aber beträchtlich hinter ihren
kontinentalen Vorbildern zurück, sie waren größtenteils technisch nicht sehr vollendet
und auch zeichnerisch unrein, im Gesamtduktus wie in der Zeichnung gewisser Buch¬
staben, vor allem des/, des langen s und des v von der Kursiv beeinflußt (Abb. 213).
Trotzdem oder vielleicht eben deswegen hatten die Texturen Caxtons einen starken
Einfluß auf die weitere Entwicklung des englischen typographischen Schriftschaffens,
und ihr eigenartiger Charakter ging auf alle übrigen englischen Schriften dieser Art
über. Caxtons Texturen wurden zum Bestandteil des Fundus der zweiten Generation
englischer Drucker - Wynkyn de Worde und Richard Pynson -, die sich daneben
sehr bald auch eigene zeichnerisch wie technisch bereits entwickeltere Texturen
anschafften. Bezeichnend für die englische Textur dieser Zeit ist insbesondere, daß
sie auch in viel kleineren Graden vorkam als auf dem Kontinent. De Worde besaß
sogar eine solche, von der 20 Zeilen nur 53 mm maßen, d. i. ungefähr 7 heutige typo-
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