GOTISCHE BUCHMINUSKEL
der Drucktextur entscheidend ist. Auch die weiteren Kennzeichen der hochentwickel¬
ten doppelt gebrochenen Handschrifttextur, das schmale Bild, die eckige Form, das
konsequent Spitzbogige und die kaum merkliche Verlängerung der Oberlängen sind
charakteristisch für ihre gedruckte Version. Die Lettern der Drucktextur werden
genauso ungenügend differenziert, und die Rücksicht auf Lesbarkeit war für den
frühen Drucker anscheinend ebensowenig maßgebend wie für den Schreiber. Der
Lesbarkeit war allerdings auch ein anderes Erbe der mittelalterlichen Schreibpraxis
abträglich: die allzu große Anzahl von Abbreviaturen und Ligaturen, die zwar ein
wichtiges Mittel zur Nachahmung der Handschrift darstellten, aber auch die Arbeit
der ersten Setzer nicht wenig erschwerten.
Die ältesten deutschen Drucke lateinischer und deutscher Texte wurden mit einer
Quadrattextur gedruckt, die alle typischen Merkmale beispielhaft ausgeprägt zeigt.
In erster Linie handelt es sich um Drucke Gutenbergs, wahrscheinlich schon 1445
gedruckte Donaten, das Mainzer Fragment des Jüngsten Gerichts aus etwa derselben
Zeit, einen Astronomischen Kalender aus dem Jahre 1447 und vor allem beide Main¬
zer lateinische Bibeln, die 42zeilige und ungefähr 1455 fertiggedruckte und die збгеі-
lige aus den Jahren 1457-1458, wo die Vorzüge der Gutenbergischen Textur am
besten zur Geltung kommen. Insbesondere die erstgenannte 42zeilige Bibel (Abb. 210)
verdient besondere Aufmerksamkeit, denn sie ist das erste gedruckte Buch solchen
Umfangs und zugleich von einer solchen Vollkommenheit, daß sie allgemein als ein
nie mehr erreichter Gipfel typographischer Vollkommenheit gilt, was für die Bemü¬
hungen der Drucker und Buchgraphiker der folgenden fünf Jahrhunderte sehr wenig
schmeichelhaft wäre. Obwohl ich diese allzu einseitige und voreingenommene Mei¬
nung keineswegs teile und in der weiteren Entwicklung des Buchdrucks nicht minder
wertvolle - wenn auch infolge des verschiedenen Maßstabs mit der Gutenbergbibel
nicht vergleichbare - Werke vorfinde, glaube ich nicht verneinen zu können, daß es
sich hier in der Tat um ein außerordentlich glückliches Ergebnis des Bemühens han¬
delt, das gedruckte Buch dem hohen Standard der besten zeitgenössischen Buchhand¬
schriften anzugleichen. Einige Exemplare der Gutenbergbibel stehen, was den Reich¬
tum der ergänzenden malerischen Ausgestaltung betrifft, fast auf gleicher Stufe mit
den letztgenannten und übertreffen sie noch durch den regelmäßigen Rhythmus der
Zeilen und das Ebenmaß der Schriftzeichnung, die die dekorative Flächengliederung
noch ausgeprägter betonen, als das bei der handschriftlichen Textur möglich war. So
ist die Gutenbergbibel tatsächlich ein Buch der Bücher, nicht weil sie die Bibel,
sondern weil sie der Markstein einer großen Umwälzung im Buchschaffen ist. Sie
vereint die Vorzüge beider Arbeitsweisen, die ornamentale Schönheit der Hand¬
schriften und die hohe Präzision und Einheitlichkeit des gedruckten Buches (De Vinne).
Was die Schrift selbst betrifft, ist die Textur dieser Gutenbergbibel zeichnerisch zwar
ein hervorragendes Beispiel der Quadrattextur, aber als Druckschrift zeigt sie noch
gewisse Mängel, die mit Hinblick auf die sehr primitiven technischen Möglichkeiten
und geringen technischen Erfahrungen begreiflich sind. Darum hat der Schnitt der
Gutenbergtextur im Druck noch nicht die erforderliche Uniformität und Schärfe des
Duktus.
Mit der Textur der 42zeiligen Bibel, deren Schriftmaterial mit dem Rest der Auflage
in den Besitz Johann Fusts und Peter Schöffers, Gutenbergs ehemaliger Teilhaber,
überging, ist auch das erste datierte, nicht minder schöne Buch gedruckt, der soge-
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zu. Drucktextur. Konrad Kachelofen, um 1493.
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