DIE VORGESCHICHTE DER LATEINSCHRIFT
der Ansichten, sondern auch in jener der Schrift und ihrer Erfindung, was allerdings
bei einem zeitlich so fernen Ereignis nicht überrascht. Wie wir noch sehen werden,
ist auch die Entwicklung gewisser Schriftformen aus nicht allzu ferner Vergangenheit
problematisch, obwohl der eindeutigen Klärung der Frage nicht - wie im erwähnten
Fall - die oft praktisch undurchdringliche Schichtung mehrerer Jahrtausende im Wege
steht. In der großen Mehrzahl der laufend verfügbaren Handbücher der Schriftkunde
pflegt die Frühentwicklung der Schrift, als bestände darüber kein Zweifel, zu der
Behauptung vereinfacht zu werden, daß die Schrift erstmalig im alten Ägypten in
Erscheinung trat und dort eine gewisse Entwicklung zu höheren Formen durchmachte,
die die Phöniker übernahmen, um sie ihrer Sprache anzupassen und dann den Grie¬
chen weiterzugeben. Eine so vereinfachte Schilderung der Geschichte der Erfindung
und frühen Entfaltung unserer Schrift entspricht, wenn sie auch im Wesentlichen der
Wahrheit nahe kommen mag, beiweitem nicht den Tatsachen. Das Problem ist übri¬
gens bis auf den heutigen Tag nicht so allseitig gelöst, daß ein endgültiger und un¬
widerlegbarer Beweis vorläge, der andere Hypothesen gänzlich ausschließen würde.
Beginnen wir also mit der Frage, wo die erste Schrift der Welt eigentlich auftauchte.
Obwohl nicht alle Forscher und vor allem nicht alle Ägyptologen sich bisher damit
abgefunden haben, kann die Tatsache, daß die Kultur des frühen Altertums in Meso¬
potamien, der Landschaft am Unterlauf der Ströme Euphrat und Tigris, auf dem
Gebiet des alten Sumer, späteren Babyloniens und heutigen Iraks geboren wurde, als
erwiesen gelten. Den stärksten Impuls für den kulturellen Aufschwung dieses Land¬
strichs bedeutete vermutlich die Ankunft der zweiten Welle des sumerischen Volkes,
dessen Herkunft bisher noch nicht ganz geklärt ist. Die Hypothese des bekannten
tschechischen Orientalisten Bedrich Hroznÿ, daß die Sumerer indogermanischer Ab¬
stammung gewesen seien, hat keine allgemeine Zustimmung gefunden, und es scheint,
daß wir uns vorläufig mit der Tatsache ihrer nichtsemitischen Herkunft zufrieden¬
geben müssen (Driver). Die Sumerer betraten die Bühne der nahöstlichen Geschichte
in ferner Vergangenheit, tief im 4. Jahrtausend v. Chr., wie die archäologische Durch¬
forschung ihrer Siedlungen nachgewiesen hat. Das geschah zu Beginn der sog. Periode
von Uruk (nach dem Hauptfundort sumerischer Denkmäler, der Stadt Uruk, heute
Warka), deren tiefste archäologische Schichten, die als Uruk IV bezeichnet werden,
oft bis in die Zeit um 3700 (Jensen) oder wenigstens 3500 (Driver) oder 3400 (Hroznÿ)
datiert werden. Alle diese zeitlichen Bestimmungen sind allerdings nur annähernde,
sehr vorsichtige Schätzungen eines Zeitabschnitts, in dem, wie aus bescheidenen Ver¬
suchen schriftlicher Notizen im Rahmen des Tempeldienstes hervorgeht, auch schon
die erste babylonische Schrift entstand: die sumerische Bilderschrift (Abb. 1). Von ihr
wird angenommen, daß sie nicht nur die älteste Schrift der Welt ist, sondern vielleicht
sogar auf die Entstehung der ältesten Form der ägyptischen Schriftzeichen Einfluß
genommen hat (Hroznÿ, Driver). Von allem Anfang an, soweit wir sie zurückver¬
folgen können, ist die sumerische Schrift keine rein piktographische ; gewisse Charak¬
tere bedeuten bereits eine phonetische Wiedergabe von Silben, und in dieser Richtung
schreitet die Phonetisierung der sumerischen Schrift so schnell fort, daß sie noch vor
dem Ende des 4. Jahrtausends eine fast rein phonetische Schrift war. Diese sumerische
Silbenschrift wurde jedoch bis dahin noch mit den ursprünglichen piktographischen
Ideogrammen geschrieben, von denen viele ziemlich deutlich den eigentlichen Gegen¬
stand des Zeichens wiedergeben; sie stellen manchmal sogar eine äußerst charakte¬
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ristische zeichnerische Abkürzung vor, obwohl die Sumerer künstlerisch anscheinend
nicht sonderlich begabt gewesen sind. In dieser zeichnerischen Linearschrift entstan¬
den die ältesten Dokumente der sumerischen Schrift aus der Zeit um 3500-2600 und
sind zunächst sämtlich in Stein gemeißelt; aber schon die archäologische Schicht
Uruk I, d. i. um 2900, enthält ähnliche schriftliche Vermerke auf Tontäfelchen, die
dann mit der Zeit in diesem Landstrich zum vorherrschenden Urkundenmaterial
wurden. Durch seinen Einfluß und die entsprechende Schreibtechnik - das Eindrücken
der Schriftzeichen mit einem dreikantigen Holzstift in die weiche Tontafel, die dann
an der Sonne getrocknet oder gebrannt wurde - büßten die sumerischen Piktogramme
bald alles ein, was noch an das ursprünglich dargestellte Objekt erinnern mochte. Mit
dieser Technik konnten jedoch auch jene wenigen Bogenlinien, die die sumerische
lineare Bildschrift aufwies, nur schwer wiedergegeben werden, weshalb sich die Su¬
merer früh mit der Kombination von vier bis fünf unmittelbar eingegrabenen Keil¬
formen begnügten. Dadurch entstand die sumerische oder altbabylonische Keilschrift (Abb.
2). Mit der Phonetisierung der sumerischen Schrift ging auch die Zahl der ursprüng¬
lich etwa 2000 Charaktere auf 500-600 einzelne Silbenzeichen zurück. Die sumerische
Keilschrift legte eine außerordentliche Lebenskraft an den Tag. Ihr System war schon
um 2850-2825 völlig stabilisiert und unterlag jahrtausendelang keinen Veränderun¬
gen. Die jüngste bekannte und datierbare Tontafel mit Keilschriftzeichen stammt aus
dem Jahre 7 v. Chr. (Driver). Die sumerische Schrift überlebte das Ende des sume¬
rischen Staates und Volkes und diente als babylonische Keilschrift auch den semitischen
Akkadern, die nach den Sumerern Babylonien beherrschten und die sumerische Kultur
übernahmen. Auch andere semitische und nichtsemitische Völker, die in verschiedenen
Gegenden oder im Umkreis Vorderasiens angesiedelt waren, übernahmen die sume¬
rische Schrift oder wenigstens das Prinzip ihres Systems und ihrer Schriftzeichen. So
entstand nach dem sumerischen Vorbild eine ganze Reihe von Keilschriften, die der
Hauptrichtung unseres Studiums jedoch fern sind, obwohl sie sonst für die Geschichte
der Zivilisation sicher Bedeutung haben. In Keilschrift ist der Großteil der Geschichts¬
quellen des vorderasiatischen Altertums geschrieben, und dieses Quellenmaterial und
andere didaktische und literarische Texte bilden den Inhalt hunderttausender in den
Museen der ganzen Welt verwahrter, größtenteils jedoch noch nicht wissenschaftlich
verarbeiteter Tontäfelchen.
In der hier geschilderten Genesis der alten Keilschriften haben weitere Entdeckun¬
gen in Mesopotamien neue Probleme aufgeworfen, insbesondere jenes des Verhält¬
nisses der elamischen Keilschrift zur sumerischen, die bisher als Vorbild der ersteren galt.
Die Feststellung, daß in Elam und andernorts in dieser Gegend schon um 3150-3000
eine von der gleichzeitigen sumerischen stark abweichende und dem piktographischen
Prototyp nähere Schrift verwendet wurde, brachte den englischen Orientalisten G. R.
Driver auf den Gedanken, die Existenz zweier verschiedener Schrifttraditionen für
die Zeit um 3500-3000 vorauszusetzen, deren eine im sumerischen Ur und Lagasch
über abstraktisierte Zeichen verfügte, während die andere in Elam und Kisch semi-
piktographische Zeichen verwendete. Da beide Systeme praktisch gleichzeitig waren,
konnte sich somit nicht eines aus dem anderen entwickelt haben. Man kann daher
annehmen, daß beide Schrifttypen von einem älteren unbekannten mesopotamischen
Prototyp abgeleitet waren. Aus diesem Prototyp hätte sich nach der Hypothese Drivers
einerseits die sumerische und unter sumerischem Einfluß etwa gleichzeitig die ägyp-
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