GOTISCHE BUCHMINUSKEL
15. Jahrhunderts angehört, deren erste Spuren jedoch schon in der zweiten Hälfte
des dreizehnten sichtbar werden, wie u. a. aus dem hier reproduzierten Beispiel aus
einer französischen Handschrift der Apokalypse um das Jahr 1280 hervorgeht (Abb.
204). Zu dieser Zeit genügte den Schreibern der besseren Handschriften nicht mehr
der runde Abschluß oder die einfache scharfe Brechung beider Enden der vertikalen
Schäfte, weshalb sie zu einer neuen Arbeitsweise übergingen. Sie bestand darin, daß
die senkrechten Schäfte beiderseits mit kurzen Zügen der schräg angesetzten Feder
abgeschlossen wurden, so daß am Kopf und Fuß des Schaftes auf die Spitze gestellte
Quadrate entstanden, deren drei freie Scheitel später zu immer schärferen Dornen
verlängert wurden. Zu dieser bedeutsamen Wandlung kam es natürlich nicht mit
einemmal, und darum kommt in vielen Handschriften die alte neben der neuen Art vor,
d. h. die einfache neben der doppelten Brechung. Später, im Verlauf des 14. Jahrhun¬
derts, waren die auf diese Weise doppelt gebrochenen Schäfte, vor allem in Schriften
größerer Dimensionen, bereits öfter vertreten und typisch für die Textur der besseren
Handschriften. Im Alphabet dieser quadratischen Textur (Abb. 208) kam es sonst
zu keinerlei wesentlichen Veränderungen, es sei denn darin, daß sie auf Grund eben
jener Quadrate der doppelten Brechung, die in der Textzeile bezeichnende Rosen¬
kränze auf der Fußlinie und in der mittleren Buchstabenhöhe entstehen ließen, zu
einer in hohem Grade dekorativen Schrift wurde. Das Schriftbild wurde noch dunkler,
denn außer einer haarfeinen Trennlinie zwischen den Bäuchen des a und am unteren
Teil der ¿-Schlinge sind aus der Schriftzeichnung alle dünnen Striche verschwunden.
Dieser Mangel wird in manchen Handschriften durch feine Zierstriche ausgeglichen,
mit denen die Buchstaben e, s, x,y und г versehen werden. Auch die Scheitel der sehr
kurzen Schäfte des b, h, к, l spalten sich zur schmückenden Gabelung ähnlich feiner
Züge, deren linker gewöhnlich kürzer und schräger geneigt ist. Damit war die Ent¬
wicklung der Textur im wesentlichen abgeschlossen, und in dieser klassischen goti¬
schen Gestalt ging sie auch in die Handschriften des 15. Jahrhunderts über. Die
strenge, traditionsgebundene, formale Behandlung ließ nicht mehr viele Varianten
zu, so daß diese Textur auf dem Standard von Schriften erstarrte, die sich mit seltenen
Ausnahmen meist nur durch die kleinere oder größere Breite des Schriftbildes, den
Grad der Stärke des Duktus und vor allem die Sorgfalt der Schreibausführung von¬
einander unterschieden. Und zur vollkommenen Ausführung dieser schreibtechnisch
außerordentlich schwierigen Schrift war diese Sorgfalt in hohem Maße notwendig.
Darum kommt die konsequente Quadrattextur in den Buchhandschriften verhältnis¬
mäßig selten vor, und kaum je mit einer so reinen Zeichnung wie z. B. in der fran¬
zösischen Handschrift des Stundenbuches des Herzogs Jean de Berry aus dem 14.
Jahrhundert, die in der Bibliothèque Nationale in Paris verwahrt wird (Tafel FXXVII),
oder in einer für den König Wenzel IV. verfertigten Abschrift der Goldenen Bulle,
die in den Jahren 1390-1400 in Böhmen entstand (Tafel FXXVIII). Zur höchsten
kalligraphischen Vollendung gedieh diese Quadrattextur sodann in liturgischen Ko¬
dizes des 15. Jahrhunderts, als deren Musterbeispiel das böhmische Antiphonar aus
dem Kloster Louka gelten kann, das 1499 geschrieben wurde und sich in der Olmützer
Universitätsbibliothek befindet (Tafel FXXIX). Seine beispielhafte Quadrattextur
ist hier besonders glücklich mit den auf die Spitze gestellten Quadraten der Notation
verbunden und bildet mit ihr ein Bild von so vollendeter graphischer Harmonie, daß
es selbst die kostbare malerische Ausgestaltung überstrahlt. In allen unseren Beispielen
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TEXTUR
dieser klassischen Form der gotischen Buchschrift stellt man vor allem den einheitli¬
chen und fest stabilisierten Standard der Schreibausführung fest, aber bei näherer
Betrachtung finden sich trotzdem auch hier gewisse individuelle Unterschiede der
Zeichnung. Vergleichen wir etwa nur die des Buchstabens g, der in der französischen
Fassung einen gebogenen Schaft, in der böhmischen Handschrift des 14. Jahrhunderts
aber eine normale Zeichnung mit geradem Schaft und einem die ganze Mittelhöhe
des Minuskelsystems ausfüllenden Bauch zeigt, während im Antiphonar von Fouka
der Bauch verkleinert ist. Obwohl die Entpersönlichung der Handschrift des Schrei¬
bers in der Quadrattextur einen ungewöhnlich hohen Grad erreicht hat, beeinflußte
die Persönlichkeit des Schöpfers der Buchhandschrift auch in dieser so formalen Schrift
auf bedeutsame Weise den Charakter der Schriftzeichnung und die endgültige gra¬
phische Wirkung der Zeile oder der Textseite.
Die Textur ist die Schrift der schönsten Buchkodizes, die seit der Zeit der berühmten
Handschriften Book of Keils und Durham Book entstanden. Das Bewußtsein eines
Sonderauftrags, wie ihn die Gestaltung eines Buches darstellte, das seinen Platz auf
dem Altar neben dem Tabernakel einnehmen sollte, ließ zusammen mit den Reprä¬
sentationsansprüchen ehrgeiziger Stifter Buchhandschriften entstehen, in denen der
formalen Vollkommenheit der Schrift eine ebenso vollendete malerische Ausgestaltung
gegenüberstand. Die Illuminationskunst erreichte hier einen Gipfel, dessen zeichne¬
rischer und farblicher Reichtum an Bild-, Ornament- und Figuralinitialen, Illustra¬
tionen und dekorativen Rahmen und Füllungen nie mehr übertroffen werden sollte.
Zielrichtung und Umfang unseres Stoffes gestatten es jedoch nicht, die außerordent¬
liche Vielzahl prachtvoller Beispiele des europäischen Buchschaffens dieser Stilepoche
eingehender zu behandeln; ein spezielles Studium erleichtert hier übrigens die ver¬
hältnismäßig ausgedehnte Literatur über die Buchmalerei. Doch wir müssen uns, auch
was Bücher böhmischer Herkunft betrifft, auf wenige Beispiele beschränken, da es uns
der Platzmangel nicht gestattet, deren Übersicht mit anschaulichen Abbildungen zu
illustrieren. Die Textur in Böhmen ist durch die Tatsache interessant, daß sie nicht
völlig, wie das andernorts fast die Regel war, lateinischen Texten Vorbehalten blieb,
sondern oft auch im tschechischen literarischen Schaffen verwendet wurde, worauf
wir bereits bei den hier erwähnten Handschriften Zivot Krista Pána (Leben des Herrn
Jesus Christus) aus dem 14. Jahrhundert in der Prager Universitätsbibliothek und
dem in Dresden befindlichen Handschriftpsalter von Podëbrady vom Ausgang des¬
selben Jahrhunderts hingewiesen haben. Gleichzeitig überwiegt im tschechischspra¬
chigen Buchschaffen jedoch schon längst eine Buchmodifikation der zeitgenössischen
Kursiv, die sich oft auf interessante Weise mit der Textur zu einer gemischten Schrift
verbindet; manchmal kann man diese Mischschrift in keine der bestehenden Gruppen
einreihen. Wenn in einer Schrift dieser Art die Merkmale der Textur vorherrschen,
dann können wir unsere Klassifizierung um eine als gemischte Textur oder von der
Kursiv beeinflußte Textur bezeichnete Untergruppe erweitern. Als Beispiel einer sol¬
chen gemischten Schrift kann jene Form gelten, mit der die Handschrift der Sonn- und
Feiertagsreden des Tomás ze Stítného aus dem Jahre 1392 geschrieben ist. Diese Schrift
schöpft aus der Textur das Gesamtprinzip der Konstruktion, das zweibäuchige a, das
auf der Fußlinie endende f und lange s, aber im übrigen ist sie durch den unformal
geläufigen Duktus der Kursiv gekennzeichnet (Abb. 209).
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