2o8. Quadrattextur. 14-15. Jahrhundert.
368
TEXTUR
genannten in nichts grundsätzlich Neuem. Wir finden hier natürlich dieselbe doppel-
bäuchige Form des a vor, dieselben schmalen Proportionen des kontrastreichen Schrift¬
bildes und dieselben die Textur kennzeichnenden Ligaturen. In der Manuskriptseite,
z. B. im 1404 entstandenen Offizium des Johannes von Saaz aus Cheb (Eger) (Tafel
LXXIV) besticht diese zwar nicht immer ganz folgerichtig gebrochene Textur durch
ihre hohen graphischen Werte, die Einheit ihrer Ordnung und den regelmäßigen
Rhythmus der Flächengliederung, die monumentale Wirkung und vor allem durch
die Vollendung und Reinheit des Stils.
Eine sehr interessante und in den Buchhandschriften keineswegs seltene Modifika¬
tion der Textur ist auch Hagens textus prescisus vel sine pedibus, d. h. die zugeschnittene
oder fußlose Textur. Es handelt sich um eine Schrift, in der manche Schäfte, die auf der
Fußlinie enden, nicht gebrochen oder gebogen, sondern horizontal zugeschnitten wer¬
den. Die Zeichnung des Kopfes der so traktierten Buchstaben bleibt gleicherweise
gebrochen wie in den zuvor angeführten Varianten, wenn man davon absieht, daß
eine horizontale Beschneidung der Vertikale nicht bei allen Buchstaben des Alphabets
möglich war (Abb. 207). Dieses Prinzip wird übrigens nicht immer gleich konsequent
angewandt. Gewöhnlich werden auf diese Weise die Schaftfüße der Buchstaben a,f, h,
i, к, l, m, n, r, des langen j, des и und die unter die Fußlinie hinabgezogenen Schäfte
des p und q gestaltet. Das ist also kaum das halbe Alphabet, aber in Hagens Beispiel
und in manchen Handschriften geht das noch viel weiter. Denn so zugeschnitten ist
auch der untere Bauch des a, der Bauch des d, der Fußteil des с, e und t. Mit dieser
Tendenz einer Betonung der Horizontale werden sodann auch die unteren Kanten
der gebrochenen Zeichnung des b, 0, v, у oder des c, e und t schräg bis zur Fußlinie
geführt, sofern sie nicht überhaupt abgeschnitten werden. Die Horizontalisierung des
Schriftbildfußes auf der Grundlinie verleiht dieser Schrift, obwohl sie nicht immer
konsequent eingehalten wird und durch das Eckige des restlichen Schriftbildes mehr
als ausgeglichen ist, dennoch ihren besonderen Charakter und einen gewissen graphi¬
schen Reiz. Allerdings war diese Form keineswegs leicht zu schreiben, denn die Ver¬
änderung der Federneigung, die sich sonst ständig an die schräge Schattenachse hielt,
war nur schwer und nur mit Zeitverlust ausführbar. Die erwähnte Schrift wurde daher
in der Regel für besonders kostbare Handschriften verwendet, wo Zeitrücksichten
einer solchen Kalligraphie nicht im Wege standen. Auch in böhmischen Handschriften
findet man schöne Beispiele ihrer Anwendung, obwohl diese nicht immer so konse¬
quent ist wie in Hagens Musterblatt (Tafel LXXV). Eine der schönsten böhmischen
gotischen Buchhandschriften, das nach 1364 entstandene lateinische Missale des Jo¬
hann von Neumarkt (Tafel LXXVI), führt uns eine besonders schöne Minuskel vor
Augen, in der wenigstens manche Buchstaben als Muster einer solchen Textur sine
pedibus gelten können. Neben gebrochenen Buchstaben des Standardduktus finden
wir hier auch solche, deren Schäfte unten gerade zugeschnitten sind wie beim i, m,
n, u. Auch der a-Schaft ist gerade und fußlos, obwohl die Bäuche dieses Buchstabens
beispielhaft gebrochen sind.
Hagens textus quadratus bzw. die Quadrattextur ist die eigentliche typische und klas¬
sische Texturform, so wie sie in die Drucklettern übernommen wurde und bis zum
Ende des 16. Jahrhunderts und hier und dort noch länger in Gebrauch blieb. Sie
wird oft auch als doppelt gebrochene Textur bezeichnet, weil ihr Hauptmerkmal die
sogenannte doppelte Brechung ist, die der allgemeinen Schreibpraxis des 14. und
369