GOTISCHE BUCHMINUSKEL
der Textur nicht nur auf die Schaftfüße beschränkt. Die Brüche auch der übrigen
Schriftzeichnung werden oft durch verfließende Übergänge weicher gestaltet, wenn
auch nicht immer folgerichtig und manchmal vielleicht unbewußt. Das ist allerdings
nicht entscheidend, und deshalb haben wir darauf bei der Zusammenstellung unseres
Alphabets dieser Schrift (Abb. 205) keine besondere Rücksicht genommen. In dieser
stellt die zweibäuchige Form des a das typischste und zur Bestimmung jeder Form der
Textur entscheidende Merkmal dar, wobei besonders wichtig ist, daß der geschlossene
obere Bauch immer merklich kleiner ist als der untere. Das d kommt nur noch in
gebrochener Unzialform vor, die weiterhin allen übrigen entwickelten Schriften des
gotischen Typus gemeinsam bleibt. Die Buchstaben / und langes í enden auf der
Fußlinie, was für die Textur als formale Buchschrift gleichfalls sehr wichtig ist. Die
übrigen Buchstaben des Alphabets sind hier insgesamt in der uns bereits aus der früh¬
gotischen Minuskel bekannten Grundzeichnung vertreten, werden aber gewöhnlich
bedeutend dicker und vor allem eckiger gestaltet und konsequenter vertikalisiert. Ge¬
genüber der frühgotischen Minuskel hat sich der Umfang des Alphabets jedoch we¬
sentlich und für lange Zeit um eine beträchtliche Zahl konsequent verwendeter Ab¬
breviaturen und Ligaturen vergrößert, z. B. der Ligaturen be, ca, et, da, de, do, et, ff, he,
ho, oc, oe, or, pe, po, pp, per, ss, st usw. Bezeichnend für diese und jede andere Textur ist
hingegen die ungenügende Differenzierung einiger Buchstaben, z. B. in der Gruppe
c-e-t oder i-m-n. Im zweiten dieser Fälle ist das n mehr ein verdoppeltes, das m ein ver¬
dreifachtes i, so daß die Kombination imn unlesbar wird (Johnson). Vom m und n
unterscheidet sich nur unwesentlich das и, weshalb die oft vorkommende Kombina¬
tion unum, sofern sie nicht durch eine Abbreviatur ersetzt wird, ein vielleicht noch
anschaulicheres Beispiel der schwierigen Lesbarkeit der Textur darstellt, denn hier
trägt auch der Akzent über dem i, der zu dieser Zeit immer geläufiger wird, nicht zur
Erleichterung des Lesens bei. Andere Beispiele einer starken Ähnlichkeit der Textur¬
zeichnung sind die Buchstabenpaare b-h, c-r, с-t und langes s-f. Die Rücksicht auf die
gute Lesbarkeit scheint jedoch nicht allzu maßgebend gewesen zu sein, denn dem
mittelalterlichen Schreiber war es mehr um die künstlerisch-graphische Endwirkung
der mit den dunklen Texturzeilen beschriebenen Pergamentfläche der Kodexseite zu
tun. Und diesem Streben kam sicherlich die zum Großteil schon sehr eckige Zeichnung
des schmalen und im Verhältnis zu den übertrieben kurzen Ober- und Unterlängen
der Minuskel sehr hohen Bildes der dicht aneinandergedrängten Buchstaben dieser
ersten formalen Modifikation der Textur entgegen.
Die zweite und stilmäßig schon viel ausgeprägtere Texturform ist eine Variante, die
Hagen in seinem Flugblatt als semiquadratus bezeichnet. In der modernen Fachliteratur
wird diese Form manchmal, wenn auch selten, einfach gebrochene Textur genannt, aber
in unserer Klassifizierung wird die Bezeichnung Textur mit gebrochenen Füßchen vielleicht
besser entsprechen, denn ihr wichtigstes und eigentlich einziges Unterscheidungsmerk-
mal gegenüber der vorgenannten Variante ist eine einfache, mehr oder weniger scharfe
Brechung der bisher runden Schaftfüße. Sie stellt somit eine bereits vollblütige Textur
dar, eine Schrift meist großer Dimensionen mit senkrechtem, eckigem und starken
Duktus monumentalen Charakters. Das Gotische hat hier in der konsequenten Verti-
kalisierung der Zeichnung und der nicht minder konsequenten Brechung aller Bogen
einen Gipfel erreicht, so daß das ganze Alphabet (Abb. 206) praktisch nur aus geraden
Zügen zusammengesetzt ist. Im übrigen unterscheidet sich dieses Alphabet vom vor-
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205. Textur mit runden Füßchen. 14. Jahrhundert.
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