GOTISCHE BUCHMINUSKEL
Griechischer und Hebrayscher Buchstaben, sampt unterrichtung, wie ein yede ge¬
braucht und gelernt soll werden’ gleichfalls die Textur. In diesem mit solch weit¬
schweifigem Titel versehenen Buch charakterisiert Fugger die Textur folgendermaßen:
‘Die Textur ist ein schöne, und doch ein langsame malerische schriefft, dann sie mit
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204. Die Apokalypse, um 1280. Detail.
sonderm fleyß geschrieben werden will, ist auch annder zeyt breüchlich gewesen, wie
dann solchs die Meßbücher, Psalter, und andere mehr... außweysen.’ Fuggers Cha¬
rakteristik ist vor allem dadurch interessant, was sie über die außerordentliche Schwie¬
rigkeit und den malerischen Charakter der Textur aussagt, denn in den besten Bei¬
spielen ist sie in der Tat eine Schrift, deren dunkles, mehr gezeichnetes oder gemaltes
als geschriebenes Schriftbild außerordentliche Sorgfalt erforderte.
In ihrem Geburtsland Frankreich wurde und wird die Textur auch heute noch
gewöhnlich als lettre de forme bezeichnet. Dieser Name war schon zu Beginn des 15.
Jahrhunderts gebräuchlich, wie es die Inventare der Bibliothek des französischen Kö¬
nigs Karl V. aus den Jahren 1411 und 1424 und das Bibliotheksinventar des Herzogs
Jean de Berry aus dem Jahre 1416 bezeugen (Johnson). Auch Geoffroy Tory bediente
sich dieser Bezeichnung in seinem Buch Champfleury aus dem Jahre 1529, wo auch
ein Beispiel der so benannten Schrift abgedruckt ist. Die italienischen Kalligraphen
des 16. Jahrhunderts nannten die Textur in ihren Musterbüchern lettera francese, was
sicher ein interessanter Beweis dafür ist, daß man sich damals der französischen Her¬
kunft der Textur allgemein bewußt war.
Die Entwicklung zur Textur vollzog sich in Frankreich schon vor dem Ende des
13. Jahrhunderts, und aus dieser Zeit haben wir bereits, wie z. B. in einer irgendwann
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TEXTUR
um 1280 geschriebenen französischen Handschrift der Apokalypse (Abb. 204), schöne
Beispiele dieser Schrift mit allen charakteristischen Hauptmerkmalen der Schrift¬
konstruktion und ihrer schreibmäßigen Behandlung. Der Textur des genannten Bei¬
spiels fehlt in der Tat nicht mehr viel, vielleicht nur ein etwas stärkerer und kontrast¬
reicherer Duktus, um sie zu jener großartigen, stilreinen Schrift liturgischer Kodizes
zu machen, die für uns in der Regel mit dem Begriff Textur verbunden ist. Doch
beim aufmerksameren Vergleich verschiedener mit der Textur geschriebener Hand¬
schriften aus dem 14. und 15. Jahrhundert finden wir, daß diese Schrift nicht nur in
einer einzigen Standardform vorkam, sondern daß man in ihrem Duktus, abgesehen
von nur durch den verschiedenen Grad der Sorgfalt oder Flüchtigkeit des Schreibens
bedingten zufälligen Unterschieden der Schriftzeichnung, im Gegenteil gewisse ab¬
sichtliche, zwar nicht allzu große, aber graphisch sehr bedeutsame Abweichungen
feststellen kann. Nach diesen leicht festzustellenden Abweichungen könnten wir die
verschiedenen Texturformen in mehrere Schreibmodifikationen einteilen, selbst wenn
uns Johann von Hagen nicht dazu geführt hätte, jener Johann von Hagen, der in
seinem hier bereits erwähnten Flugblatt vier Varianten der Textur unterscheidet und
nennt, nämlich den textus quadratus, den textus precisus vel sine pedibus, den semiquadratus
und den textus rotundus. In all diesen Varianten Hagens besteht der Hauptunterschied
in der Gestaltung des Abschlusses der Schäfte, d. h. in der Form der Schaftfüße und
mancher ihnen ähnlicher vertikaler oder vertikalisierter, auf der Fußlinie endender
Züge.
Am geläufigsten und der gewöhnlichen gotischen Buchminuskel am nächsten von
allen diesen Varianten ist ohne Zweifel jene Form, die Hagen als textus rotundus be¬
zeichnet. Allerdings ist das kein ganz zutreffender Name für diese Schrift, deren Rund¬
heit eigentlich nur in der gerundeten Krümmung der Schaftfüße besteht, also einem
sehr kleinen Detail der im übrigen schon ziemlich eckigen Schriftzeichnung. Dem
Begriff rotundus müssen wir in diesem Fall besonders heute aus dem Weg gehen, denn
er bezeichnet nunmehr allgemein und weit treffender die italienische Hochform der
gotischen Buchschrift, die von der engen Zeichnung dieser Modifikation der Textur
meilenweit entfernt ist, für die wir jedoch bisher keinen besseren Namen haben als
rundliche Textur oder genauer Textur mit runden Füßchen. Es ist dies eine Gattung der
Textur, der wir in den Manuskriptkodizes sehr oft begegnen, denn der natürliche
Abschluß der Schäfte auf der Fußlinie durch die bloße Krümmung des Strichs be¬
hinderte den Schreibvorgang anscheinend weniger als wenn man den eckigen Cha¬
rakter des Duktus, der schon am Kopf des Schriftbildes folgerichtig angewandt wurde,
auch an seinem Fuß beibehalten hätte. Aus diesem Grund finden wir diese Form der
Textur mehr in geläufiger geschriebenen Handschriften vor, z. B. in der böhmischen
Handschrift eines in Prag befindlichen Missais mit einem Gebet zur Hl. Jungfrau
etwa aus der Mitte des 14. Jahrhunderts (Tafel LXXII), dessen verhältnismäßig
schwerfälliger Schreibweise die feine und kultivierte malerische Ausgestaltung dieser
Handschrift gegenübersteht. Ein runder Abschluß der Schäfte kommt jedoch häufig
auch bei den klassischen Beispielen einer meisterhaften Schreibkunst vor, wie sie z. B.
die prachtvolle, bis auf diese Ausnahme scharf bis spitzbogig gebrochene fette Textur
einer anderen böhmischen, nicht weniger prächtig illuminierten Handschrift, des Mis¬
sais der Schwester Agnes aus dem dritten Viertel des 14. Jahrhunderts, vorstellt (Tafel
LXXIII). Doch es gibt auch solche Handschriften, bei denen sich der runde Duktus
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