GOTISCHE BUCHMINUSKEL
in so früher Zeit voneinander unterscheiden, zeigen unsere Beispiele aus Handschriften
des 12. Jahrhunderts (Tafel LXVIII, LXIX). Im ganzen haben diese Frühformen der
gotischen Minuskel in den Kodizes des 12. Jahrhunderts trotz aller lokalen Unterschiede
und der individuellen Handschrift des Schreibers den gemeinsamen Charakter einer
universalen Buchschrift. Darum faßt auch Kirchner diese Schriften in seinem zuvor
erwähnten Werk zu einer als ‘gotische Buchschrift’ bezeichneten Gruppe zusammen,
aber dieser Terminus ist viel zu breit gefaßt, als daß wir ihn nutzbringend anstelle
der traditionellen Klassifizierung verwenden könnten.
Die während des folgenden Jahrhunderts mit der Summe der erwähnten Merkmale
ausgestattete geläufige gotische Minuskel gewann im Buchschaffen ein immer stärkeres
Übergewicht. Die dichte Schriftzeichnung wird aus Einsparungs- oder rein graphi¬
schen Gründen durch die wechselseitige Verknüpfung benachbarter Buchstaben, die
in der karolingischen Minuskel getrennt geschrieben wurden, noch mehr hervorge¬
hoben, so daß von neuem die uns bereits bekannten Ligaturen zustande kommen. Die
ersten Anzeichen derartiger graphischer Gebilde treten in der Gotik zwar schon in
Handschriften des 12. Jahrhunderts mit der Verknüpfung der Buchstaben d-e durch
Verbindungsstriche in Erscheinung, aber im dreizehnten Jahrhundert kommt es be¬
reits zur völligen Verschmelzung der Nachbarstriche der Bäuche des b, h, p, v mit dem
folgenden Buchstaben e oder 0. In der weiteren Entwicklung verschmilzt das 0 auch
mit einem nachfolgenden e, g, q. Am Wortende steht anstelle des langen das runde s,
das im Laufe der Zeit immer eckiger wird. Das sogenannte runde r, das früher nur in
manchen Ligaturen vorkam, wird nunmehr immer öfter selbständig verwendet. Der
finke Teil des /-Querbalkens verkürzt sich ständig, bis er schließlich verschwindet,
womit dieser Buchstabe oft praktisch nicht vom с zu unterscheiden ist. Hingegen wird
der differenzierende Akzent in Gestalt eines dünnen Strichs über dem i zur Gewohn¬
heit. Im ganzen werden die Bogen der Schriftzeichnung während des 13. Jahrhunderts
noch stärker gebrochen, und das Eckige des Schriftbildes wird manchmal noch stärker
betont, indem man die bisher frei auslaufenden oder gebogenen Schäfte neuerdings
rechtwinklig abschließt (Abb. 203). Im genannten Jahrhundert können wir Kirchner
zufolge bereits drei verschiedene Varianten dieser gotischen Buchschrift unterscheiden.
Deren erste, die Zisterzienserschrift, ist eine größere Minuskel mit allen eben erwähnten
Merkmalen, die sich sehr schnell aus Frankreich in die Zisterzienserklöster im übrigen
Europa verbreitete. Die Perlschrift wiederum war eine sehr kleine Minuskel, die
zum Schreiben der ausgedehnten Texte des Alten und Neuen Testaments in kleinen
Buchformaten diente und sich von der vorgenannten Schrift eigentlich nur durch die
Ausmaße des Schriftbildes unterschied. Der dritte französische Typus einer gotischen
Minuskel des 13. Jahrhunderts war die sogenannte litter a Parisiensis, die abweichend
von den übrigen Formen ein verhältnismäßig breites Schriftbild aufwies. Das Gotische
dieser Form kommt jedoch umso ausgeprägter in der energischen Brechung der Bögen
der sehr fetten Schriftzeichnung zum Ausdruck. In seinem Alphabet ist außerdem die
charakteristische Zeichnung des Buchstabens a mit zwei Bäuchen, die links mit einem
gemeinsamen senkrechten dicken Strich abgeschlossen werden, einen Hinweis wert.
Die fittera Parisiensis war allem Anschein nach eine sehr beliebte Schrift, denn sie
kommt noch in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts in Handschriften Pariser Pro¬
venienz vor. Außerhalb Frankreichs und vor allem in Mitteleuropa überwiegt im 13.
Jahrhundert der Schrifttypus der französischen Zisterzienserhandschriften, allerdings
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202. Gotische Buchminuskel, frühe Form des 12. Jahrhunderts.
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