GOTISCHE BUCHMINUSKEL
paläographische und paläotypische Klassifizierung und Terminologie war zu allge¬
mein und manchmal nicht genau genug, weshalb ich in der ersten tschechischen Auf¬
lage dieses Buches behelfsmäßig teils zu eigenen Beiträgen, teils zur Klassifizierung
und Terminologie des ausgezeichneten und grundlegenden Werkes über die gotischen
Manuskript- und Druckhandschriften ‘Die gotischen Schriftarten’ - publiziert 1928
von den deutschen Forschern Enst Crous und Joachim Kirchner - Zuflucht nahm.
Für manche Schriften verwendete ich darüber hinaus die ursprünglichen zeitgenössi¬
schen Bezeichungen in jenen Fällen, wo ich mich auf alte Schreiblehrbücher und kal¬
ligraphische Mustersammlungen stützen konnte. Am schwierigsten war die Ausein¬
andersetzung mit der Klassifizierung und Terminologie der jüngeren spätgotischen
Kursivschriften, die in der einschlägigen Literatur gewöhnlich übergangen werden,
ohne daß man sie einer Betrachtung oder Analyse unterzöge. Für die eigentliche
Epoche der Gotik war mir das Werk E. Crous’ und J. Kirchners in dieser Hinsicht
eine unschätzbare Hilfe, und ich glaube nicht, daß es bis dato von einem besseren
System - vor allem was Einfachheit und Übersichtlichkeit betrifft - übertroffen wurde.
Meiner Ansicht nach übertrifft es auch der Vorschlag einer neuen Klassifizierung und
Terminologie G. I. Lieftiencks aus dem Jahre 1954 nicht, denn seine Realisierung
würde allzu weitgehende Veränderungen in die Systematik der lateinischen gotischen
Buchschriften hineintragen. Den Wert dieses Beitrags für die paläographische For¬
schung können zwar nur dazu berufene Fachleute beurteilen, aber aus dem Gesichts¬
punkt unseres speziellen Studiums und der Anschaulichkeit unserer Übersicht stellt
sich das Übermaß der terminologischen Neuerungen, die traditionelle und charakte¬
ristische Bezeichnungen beseitigen, als Mangel heraus, denn diese Termini sind in¬
zwischen in der modernen Paläographie und Paläotypie allgemein akzeptiert worden
und haben sich bewährt. In Lieftiencks Terminologie hat außerdem auch der Stil¬
charakter der gotischen Schriften keinen Ausdruck gefunden, der wiederum in den
bisherigen Bezeichnungen deutlich wird. Obwohl im übrigen zweifellos anregend,
bleibt dieser Vorschlag inzwischen weiterhin nur ein solcher und wird ohne gewisse
Korrekturen wohl kaum allgemein angenommen werden. Ich werde daher vorläufig
an meiner ursprünglichen Disposition außer gelegentlichen Hinweisen auf ähnliche
terminologische Abweichungen im wesentlichen nichts ändern.
In der ersten Phase der Stilwandlung der runden romanischen Minuskel beginnt
sich, obwohl ihre bis dahin vorherrschende Horizontalität noch nicht fühlbar gestört
ist, durch die Verstärkung der senkrechten Züge und eine unwillkürliche Begradigung
der Rundstriche in ihrer Zeichnung schon im 11. Jahrhundert eine gewisse Tendenz
zur Vertikalität des Duktus geltend zu machen. Die Kreuzung beider Richtungen,
der Horizontale und der Vertikale, die bis dahin sowohl im Schriftbild als auch in der
Textseite nicht ihr Gleichgewicht eingebüßt hatte, führte Joachim Kirchner (Die go¬
tischen Schriftarten) dazu, derartige Schriften zusammenfassend Gitterschrift zu nen¬
nen, während wir diese Bezeichnung nach dem Beispiel Hermann Delitsch’ für eine
weit zutreffendere Charakterisierung der hier angeführten kuriosen Schrift der frän¬
kischen Reichskanzlei verwendeten und sie für weitere Schriften dieser Art reservieren
wollen, sofern wir ihnen im Geschichtsablauf der Lateinschrift noch begegnen sollten.
Der gitterartige Charakter der Minuskel in Kirchners Beispiel aus dem 11 .Jahrhundert
ist übrigens, obwohl er durch die Ligatur benachbarter Buchstaben unterstützt wird,
auch in der Textseite nicht so stark ausgeprägt, als daß eine besondere Klassifizierung
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FRÜHFORM DER GOTISCHEN MINUSKEL
dieser Schrift unumgänglich notwendig wäre. Für uns und für die Zwecke unseres
Studiums genügt vielleicht die Feststellung, daß eine jede derartige romanisch-gotische
Übergangsminuskel in den verschiedenen Beispielen Merkmale beider Stile in verschie¬
dener Dosierung erkennen läßt und daß es daher sehr schwer fällt, klarzustellen, ob
es sich in diesem oder jenem Fall nur um eine etwas eckiger geschriebene karolingische
Minuskel oder schon um eine gewisse Stufe ihrer Gotisierung handelt. Die Stilwandlung
beanspruchte übrigens auch in der Schrift eine gewisse Zeitspanne und ihre Verspä¬
tung stand in einem direkten Verhältnis zur Entfernung von den Zentren des nord¬
französischen Schreibwesens.
Im 12. Jahrhundert, einer Zeit, da in der Isle-de-France die ersten großen gotischen
Bauwerke entstanden, machte die formale Umwandlung der karolingischen Minuskel
in den nordfranzösischen Handschriften einen großen Schritt voran, indem es zu einer
deutlichen Brechung der Bögen runder Buchstaben und anderer Rundzüge kam und
die Vertikalen stärker hervorgehoben wurden. In der Übergangsschrift gewinnen auf
diese Weise gotische Elemente allmählich Übergewicht, bis man bereits mit Bestimmt¬
heit von einer gotischen Schrift sprechen kann, obwohl eine solche GOTISCHE
BUCHMINUSKEL — littera textualis (Lieftienck) — stilmäßig nicht immer ganz aus¬
gereift ist. Diese und die folgende Entwicklung stand auch unter dem Einfluß des
technischen Moments, denn die Schreiber begannen eine breiter zugeschnittene Feder
zu verwenden. So verstärkt sich zugleich mit dem Nachdruck auf die Vertikalität, auf
die zunehmende Eckigkeit der runden Züge und die Dicke der senkrechten Schäfte
auch der Kontrast zwischen den starken vertikalen und den feinen nichtvertikalen
Strichen, die zu haarfeinen und kaum noch sichtbaren Linien verdünnt werden. Dieses
Prinzip des scharfen Kontrasts ist schon im Alphabet der frühen Form der gotischen Mi¬
nuskel (Abb. 202) deutlich erkennbar und für diese in den meisten Fällen besonders
typisch. Doch auch sonst, in der Zeichnung einzelner Buchstaben, gewinnt die frühe
gotische Minuskel einen eigenartigen Charakter. Das a hat in der Regel einen Bauch,
was bis auf gewisse seltene Ausnahmen ein zur Bestimmung der Frühform und der
gewöhnlichen späteren gotischen Buchminuskel sehr wichtiges Merkmal ist. Der Schaft
dieses Buchstabens wird in der Regel mehr senkrecht oder nur wenig geneigt gezeichnet,
und sein Scheitel biegt sich sehr oft mit einem kurzen Bogen nach links, um später
eine Tendenz zum Anschluß an den Bauch zu zeigen. Neben der ¿-Form der karolin¬
gischen Minuskel kommt die gebrochene Unzialform vor, die für jedes entwickelte
gotische Alphabet so bezeichnend ist. In der gebrochenen Zeichnung der Buchstaben
c> ei h, 0, p und q verlieren sich die ursprünglichen Kreisbögen und der bis dahin
runde Strichansatz der senkrechten Schäfte i, m, n, г, и und bei den langen Schäften
des b, d, к, l spitzt er sich zu.
Die etwa so stabilisierte Frühform der gotischen Minuskel, littera textualis currens
(Lieftienck), wurde zur Standardbuchschrift nicht nur für die ganze Frühzeit der
Gotik, sondern noch lange danach, und zwar in jenen Fällen, wo nicht mehr Zeit und
Sorgfalt für eine anspruchsvollere Schrift aufgewandt werden mußte. Es war dies eine
zwar meist noch ziemlich formale Schrift, die aber verhältnismäßig leicht zu schreiben
war, sicher in nicht geringerem Maß als die karolingische Minuskel. Aus Nordfrank¬
reich wurde diese Schreibweise alsbald auch in die westdeutschen und englischen
Klöster übertragen, in deren Handschriften man den französischen Einfluß Schritt für
Schritt verfolgen kann. Wie wenig sich die Buchschriften solcher entfernter Gegenden
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